Heute ist es mein Traumberuf

Jürg Wirth Rafael da Silva, Chef Bezirk 4 beim Tiefbauamt Graubünden, gibt Auskunft über Strassen und Verkehrswege.

Woran denken Sie beim Stichwort Strasse?

Strassen sind die Lebensadern in unserem dezentral besiedelten Gebirgskanton. Sie sind wichtige Verbindungen zwischen Dörfern, Regionen und Ländern. Dabei sind sie nicht nur Verkehrsträger für den motorisierten Individualverkehr, sondern auch für einen Grossteil des öffentlichen Verkehrs sowie des Langsamverkehrs. Strassen fördern nicht nur die Wirtschaft, sondern stehen auch für Freiheit, da sie es Menschen ermöglichen, unabhängig von Wetter und Tageszeit zu reisen. Zudem haben Strassen die Entwicklung ganzer Gemeinden und Regionen massgeblich beeinflusst.

 

Sie sind Leiter des Tiefbauamtes Bezirk 4 Scuol und damit für rund 200 Kilometer Strassen zuständig. War das schon immer Ihr Traumberuf?

Als Kind hatte ich sicherlich Traumberufe, die sich jedoch mit zunehmendem Alter veränderten. Vom Beruf als Bauingenieur konnte ich mit den Jahren eine gewisse Arbeitserfahrung sammeln und mich in diesem Fachgebiet weiterentwickeln. Es war also eher eine Weiterentwicklung dieser Kindheitsträume. Mein Interesse am Bauingenieurwesen und meine berufliche Entwicklung führten mich letztendlich zu dieser Position als Bezirkschef des Bezirks 4 Scuol. Die Möglichkeit, die Region, in der ich lebe, aktiv mitzugestalten, die Vielfalt der ingenieurtechnischen Herausforderungen und die vielseitigen Aufgaben aus betrieblicher Sicht, machen meinen Beruf heute zu meiner Leidenschaft. Somit kann ich sagen, dass es heute mein Traumberuf ist. 

 

Was bereitet Ihnen bei Ihrer Arbeit am meisten Sorgen?

Bei Projekten sind es meist geologische Bedingungen, die mir manchmal etwas Kopfzerbrechen bereiten. Auch das Wetter ist immer wieder ein Faktor, das eine Herausforderung darstellt, da wir im Engadin nur ein kurzes Baufenster während der Sommermonate haben. Dieses wollen wir natürlich so gut es geht ausschöpfen. Was den Betrieb betrifft, ist es wieder vor allem der Faktor «Wetter» und abhängig davon, die Naturgefahren. In einer alpinen Region wie dem Engadin bestimmt das Wetter unseren Arbeitsalltag – also, welche Arbeiten wir ausführen, um zu gewährleisten, dass die Strassen sicher und befahrbar bleiben.

 

Was gefällt Ihnen am besten an Ihrer Arbeit?

Am meisten gefällt mir das vielfältige Aufgabengebiet, das unseren Arbeitsalltag jeden Tag aufs Neue bestimmt. Kein Arbeitstag ist gleich wie der vorangehende. Das stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen. Das Wichtigste für mich – und was mir auch bei meiner Arbeit sehr gut gefällt – ist die Zusammenarbeit mit den verschiedensten Menschen und Charakteren. Und es macht mich stolz, dass wir mit unserer Arbeit die Region mit funktionierenden Verkehrsachsen und prägenden Zukunftsprojekten unterstützen, die wir mit Leidenschaft umsetzen.

 

Welches sind die aufwendigsten Strassenabschnitte?

Diese Frage so pauschal zu beantworten, ist schwierig. Einzelne Strassenabschnitte weisen einen sehr geringen Aufwand in Betrieb und Unterhalt auf. Andere Strassenabschnitte wiederum, mehrheitlich in unserer Region, erfordern mehr Aufwand in Betrieb und Unterhalt. Das kommt vor allem auf die Jahreszeit, die Witterung und die geografische Lage der Strasse an – also zum Beispiel, wie exponiert sie ist, oder ob sie entlang eines Hangs oder im Talboden verläuft. 

 

Wie lange «hält» eine Strasse?

Eine Strasse besteht aus mehreren «Schichten»: Zuoberst liegt die Deckschicht, auch Verschleissschicht genannt. Diese hat eine Lebensdauer von 20 bis 25 Jahren. Die darunterliegende Tragschicht muss nach rund 50 Jahren erneuert werden. In diesem Zusammenhang sollte auch der obere Teil der Fundationsschicht ersetzt werden. Dies sind allerdings nur Richtwerte – die effektive Lebensdauer einer Strasse hängt vom Verkehrsaufkommen und anderen Faktoren wie zum Beispiel klimatischen Bedingungen ab. Separat zu betrachten sind die Kunstbauten, die ebenfalls zu einer Strasse gehören: Brücken halten in der Regel ca. 80 Jahre, wobei es gute Beispiele im Kanton gibt, die zeigen, dass sie auch über 100 Jahre halten. Ähnlich ist es mit Tunneln – auch diese haben eine Lebensdauer von etwa 80 bis 100 Jahren.

 

… und hier in der Gegend, Stichwort Unterengadiner Fenster?

Es ist sehr unterschiedlich. Bei einzelnen Strassenabschnitten können wir nach der Theorie gehen. Andere Strassenabschnitte wiederum erfordern alle drei, wenn nicht sogar jedes Jahr Instandhaltungsmassnahmen.

 

Erdrutsche und Felsstürze nehmen zu. Wie lange können wir hier überhaupt noch auf den Strassen fahren?

Erdrutsche, Steinschläge, Block- oder Felsstürze, Lawinen – die Liste ist lang, und solche Ereignisse sind in unseren alpinen Regionen ein Teil der Natur. Das Tiefbauamt überwacht die Strassen kontinuierlich. Wo ein Sicherheitsdefizit festgestellt wird, ergreifen wir Massnahmen, um die Sicherheit für die Strasse und die Verkehrsteilnehmenden zu gewährleisten. Bei grösseren, unvorhergesehenen Ereignissen kann es manchmal passieren, dass eine Strasse aus Sicherheitsgründen gesperrt werden muss. Diese Entscheidung treffen wir nie leichtfertig, und wir arbeiten mit Hochdruck daran, die Strasse so schnell wie möglich wieder dem Verkehr übergeben zu können. 

 

Dafür werden die Winter milder, erleichtert das Ihre Arbeit?

Ganz im Gegenteil: Milde Winter bringen neue Herausforderungen mit sich. Grosse Temperaturschwankungen, Niederschläge in Form von Regen oder kurze, aber heftige Schneefälle machen den Betrieb und die Offenhaltung der Kantonsstrassen aufwendiger. Dazu kommt das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden: Diese möchten sich nicht immer an die Strassenverhältnisse anpassen. Strassenunfälle passieren daher oft in solchen milden Wintern. 

 

Momentan läuft ein gross angelegtes Ausbauprogramm. Ist das einfach Wirtschaftsförderung oder tatsächlich nötig?

Das Ausbauprogramm von Haupt- und Verbindungsstrassen wird nach der Mehrjahresplanung und dem Strassenbau und Strassenbauprogramm geführt. Es ist in dem Sinne keine Wirtschaftsförderung, sondern notwendig, um die Infrastruktur zu verbessern und den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden. 

 

Und was soll nachher die Lebensdauer der Strassen sein?

Die Lebensdauer bleibt dieselbe wie bereits erwähnt.

 

Trotz breiteren Strassen gibt es keine Fahrradstreifen. War das nie ein Thema?

Die Bedeutung des Langsamverkehrs hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Grundsätzlich liegt der Langsamverkehr gemäss Strassengesetzgebung in der Zuständigkeit der Gemeinden. Der Kanton macht aber die übergeordnete Planung und übernimmt auf Gesuch hin auch die Projektierung und Ausführung. Bei den Radstreifen müssen zwei unterschiedliche Arten differenziert werden: zum einen die Radstreifen für die Rennvelofahrer*innen, zum anderen diejenigen für den Alltags- bzw. Freizeitverkehr. Im Zusammenhang mit dem Ausbau einer Kantonsstrasse wird das Potenzial in Bezug auf den Veloverkehr geprüft. Dort, wo es angezeigt und auch möglich ist, werden von der Kantonsstrasse abgesetzte Radwege – vor allem für Alltag- und Freizeitverkehr – durch die Gemeinden und mit finanzieller Unterstützung des Kantons realisiert. Der Kanton kann dabei bis zu 80 Prozent der anrechenbaren Kosten übernehmen. 

 

Wie benutzen Sie «Ihre» Strassen am liebsten?

Mehrheitlich mit dem Auto. Mit dem Mountainbike bin ich eher auf Gemeindestrassen oder Bergstrassen unterwegs.

 

Welches ist die Lieblingsstrecke in Ihrem Arbeitsgebiet?

Sehr schwierige Frage! Es gibt sehr viele schöne und eindrückliche Strecken und Strassenabschnitte in unserem Bezirk. Sich auf eine Lieblingsstrecke zu beschränken, ist ziemlich schwierig. So aus dem Bauch heraus würde ich sagen – ohne die anderen Strecken dabei unterzubewerten – dass der Ofenpass mit der Linienführung und der Landschaft inmitten des Schweizerischen Nationalparks sicher eine der schönsten Strecken in meinem Arbeitsgebiet ist.

 

Haben Sie sonst eine Lieblingsstrasse in der Schweiz oder auch ausserhalb?

In der Schweiz, vor allem auch in Graubünden, gibt es für mich bereits die schönsten Strecken mit dem Umbrailpass, dem Ofenpass, der Samnaunerstrasse, dem Flüelapass, dem Albulapass, Berninapass usw. Es ist aber sehr schwierig, eine Auflistung vorzunehmen und die schönsten Strassen zu bewerten. Eine Strasse, die mir aber sicher in Erinnerung bleiben wird, ist die eindrückliche Strecke im Valmalenco von Lanzada hoch bis zur Staumauer Alpe Gera (Lombardei, Italien).

 

Ganz generell, sind Sie oft auf der Strasse?

Geschäftlich wie auch in der Freizeit bin ich sicher mindestens einmal am Tag auf einer Kantonsstrasse unterwegs.

 

Wenn Sie ausserhalb vom Engadin fahren, schauen Sie da anders auf die Strassen?

Auf jeden Fall. Man schenkt der Fahrbahnqualität, den Konstruktionen, den Tunnelbauten, den Brücken, den Schutzbauten und falls möglich auch den Bauabläufen viel mehr Aufmerksamkeit. Sei es in der Schweiz oder auch im Ausland.

Rafael da Silva kämpft immer mal wieder mit Naturgefahren. Am meisten schätzt er bei seiner Arbeit jedoch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen.
Rafael da Silva kämpft immer mal wieder mit Naturgefahren. Am meisten schätzt er bei seiner Arbeit jedoch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen. © zvg
Bei Felsstürzen, wie hier auf der Engadinerstrasse zwischen Martina und der Landesgrenze kurz vor Weihnachten 2023, sind Rafael da Silva und sein Team gefordert, um die Strassen schnellstmöglich wieder freigeben zu können.
Bei Felsstürzen, wie hier auf der Engadinerstrasse zwischen Martina und der Landesgrenze kurz vor Weihnachten 2023, sind Rafael da Silva und sein Team gefordert, um die Strassen schnellstmöglich wieder freigeben zu können. © Dominik Täuber
Zur Person:

Rafael da Silva ist Bauingenieur und Chef Bezirk 4 beim Tiefbauamt Graubünden. Zuvor war er in einem Ingenieurbüro tätig.

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