Wie viele Stunden haben Sie bisher insgesamt trainiert?
Das weiss ich nicht genau. Ich habe nie ein Trainingstagebuch geführt. Es gibt Athleten, die das machen, aber ich habe das nie in dieser Form gemacht. Was ich gemacht habe, ist in einem Tagebuch die Wiederholungen der Übungen, die Gewichte etc. festzuhalten. Zu Beginn der Karriere war es auch wichtig, die Anzahl gefahrener Tore festzuhalten.
Und wie viele waren das?
Im Schnitt fuhr ich 250 bis 300 Törli pro Tag, was eigentlich nicht so viel ist.
Aber es braucht einen erheblichen Aufwand, um so weit zu kommen?
Ja, unbestritten. Ich habe mein erstes Rennen etwa 1997 im Alter von 11 oder 12 Jahren absolviert. Zehn Jahre später war ich in Europa einigermassen bei den Leuten, und 2014 habe ich die Goldmedaille an den Olympischen Spielen in Südkorea geholt.
Die Trainingswissenschaft sagt, dass es mindestens zehn Jahre konsequentes Training mit System braucht, wenn man es an die Weltspitze schaffen will.
Und wie motiviert man sich da immer wieder?
Da hatte ich eigentlich nie so Probleme, da ich extrem ehrgeizig war. Am Anfang wollte ich einfach besser sein als meine Kollegen am Hochalpinen Institut in Ftan (HIF). Dann erweiterte ich langsam den Radius meiner Wettkämpfe. Ich wollte immer besser sein als mein Umfeld. Das waren dann erst die Fahrer aus der Region, dann die aus Graubünden, schliesslich jene aus der Schweiz. Dabei hatte ich ja auch immer wieder Erfolgserlebnisse, zum Beispiel, wenn ich in einem Regionalrennen auf dem Podest gestanden bin.
Und das Snowboardtraining im Schnee fand ich immer «huere geil», das Training im Kraftraum und das Konditionstraining anfangs etwas weniger. Doch mit der Zeit habe ich gemerkt, wie wichtig das für eine erfolgreiche Karriere ist.
Sie haben das HIF erwähnt. Waren Sie denn ein angenehmer Mitschüler?
Ich glaube nicht immer. Denn ich konnte nicht verlieren, bei jedem Spiel, egal was, wollte ich immer gewinnen. Ich war extrem ehrgeizig. Deshalb war ich auch froh, dass ich den Sport gefunden hatte, bei dem ich diese Eigenschaft ausleben konnte.
Denn während das reine Konkurrenzdenken und der Konkurrenzkampf im «normalen» Leben eher verpönt sind, gehört das im Sport dazu.
Allerdings habe ich auch dort mit der Zeit gemerkt, dass Fairness und Fairplay wichtig sind. Dass sich der Kampf auf die Distanz zwischen Start und Ziel beschränkt und danach wieder fertig ist mit Ellbögeln.
Alles in allem ist der Sport eine sehr gute Lebensschule. Du verlierst und gewinnst, verlierst sogar häufiger als du gewinnst. Lernst also zu verlieren und Mensch zu sein.
Wie gut ging das mit dem Verlieren?
Früher hat es mir grausam gestunken, wenn ich verloren habe. Mit der Zeit habe ich dann gelernt, damit umzugehen. Das heisst nicht, dass ich gerne verloren hätte. Doch ich konnte auch nach einer Niederlage ein Interview geben oder einfach mit Leuten reden. Das wäre vor 15 Jahren überhaupt nicht gegangen, da war ich viel zu wütend nach Niederlagen.
Sie haben zwei dreijährige Kinder, tragen die schon Charakterzüge von Ihnen?
Nein, bis jetzt stelle ich da nichts fest. Sie spielen sehr gerne, machen Sport, sind gerne draussen, klettern oder kämpfen, was Kinder in diesem Alter eben tun.
Hat sich denn der ganze Aufwand gelohnt?
Der hat sich zu 100 Prozent gelohnt. Schon während meiner Karriere hatte ich immer wieder das Gefühl, dass sich der Aufwand lohnt, schon vor dem Gewinn der Goldmedaille an Olympia.
Und weshalb dieses Gefühl?
Ich durfte während meiner Karriere viele coole Sachen machen. So habe ich sehr viele Leute kennengelernt – Athleten, Betreuer, Sponsoren. Das ist das, was bleibt, dieses Netzwerk. Auch das Sportlerleben, sprich das Unterwegssein, hat mir sehr gut gefallen. Ich war immer extrem dankbar, dass ich dieses Leben leben durfte und habe das brutal geschätzt.
Was bleibt als prägende Erinnerung?
Sicher der Moment am Start, wenn alles zusammenkommt. Du weisst dann, du hast die ganze Zeit trainiert für diesen einen Moment. Das ist, sorry für den Ausdruck, «uhuere geil». Mehr Adrenalin geht fast nicht. Ich hatte immer Respekt vor diesem Moment, habe das aber auch sehr geliebt. Stell dir vor, du stehst bei Olympia am Start vor dem letzten und entscheidenden Lauf für die Goldmedaille, du spürst den Druck, du erlebst es maximal.
Wird Ihnen dieser Moment fehlen?
Bis jetzt geht es noch, denn auch als aktiver Profi habe ich es im Frühling etwas ruhiger genommen, so wie jetzt auch. Das mit dem Fehlen wird erst im Sommer beginnen, wenn ich weiss, dass die anderen wieder mit dem Konditionstraining anfangen. Wenn im Winter dann wieder die Wettkämpfe anstehen, werde ich es 100-prozentig vermissen. Jedoch nicht nur die Momente am Start, sondern auch all die Kollegen im Snowboardzirkus.
Allerdings ist es ja auch schön, wenn ich das vermissen kann. Deshalb bin ich froh, dass ich nicht so lange Profi war, bis ich die Nase voll hatte.
Gab es auch mal Durchhänger?
Klar gab es die auch mal, das ist ja logisch, aber keine sehr schlimmen. Am ehesten dann, wenn ich mich für das Sommertraining in Saas Fee in die volle Gondel quetschen musste, samt meinen drei Boards, Schuhen und anderem Material. Da habe ich mich schon ab und zu gefragt, was ich da mache. Oder wenn ich im Sommer bei 35 Grad Aussentemperatur Kondition und Intervall trainiert habe.
Aber grundsätzlich ging es gut?
Ja, auch deshalb, weil man als Einzelsportler selber entscheiden kann, im Gegensatz beispielsweise zu den Hockeyanern oder den Fussballern. Das heisst, ich kann auch über das Training mitentscheiden, bin dann aber auch selber dafür verantwortlich, kann es aber auch wieder ändern, wenn es sein muss.
Wie gross war denn Ihr Team?
Da waren drei, welche mir die Nationalmannschaft stellte: der Coach, der Physiotherapeut und ein Servicemann. Den Teamarzt holte ich etwas stärker ins Boot, dazu kam ein eigener Konditionstrainer. Erst war das mein Bruder, die letzten drei Jahren hatte ich dann einen aus Magglingen. Allerdings war mir mein Bruder immer sehr nahe.
Das heisst, Sie führten ein KMU?
An und für sich schon, jedoch waren die drei Leute von der Nationalmannschaft vom Verband finanziert. Den Teamarzt bezahlte ich nach Besuchen, genauso wie den Konditionstrainer. Beim Konditrainer ist speziell, dass ich ihn dafür bezahlte, mich zu kritisieren. Es darf also kein Wohlfühlding werden – obwohl ich ihn bezahle, muss er mich kritisieren.
Dazu muss ich jeden Tag Zeit einplanen, um Mails zu beantworten, etc.
Sie haben kein Management?
Nein, ich habe lediglich jemanden, der mich bei der Medienarbeit unterstützt, sonst mache ich alles selber. Dass ich so viel selber mache, ist eine ausgezeichnete Schulung und eine gute Vorbereitung für das Leben nach dem Sport.
Was hat Sie das Sportlerleben gelehrt?
Zum Beispiel das Mindset, dass Input in ein System immer auch einen Output generiert.
Was heisst das konkret?
Vereinfacht gesagt, wenn man mehr trainiert als die anderen, muss es irgendwann aufgehen. Diese Einsicht kann ich mitnehmen ins Geschäftsleben. Auch dort ist sie wertvoll, denn auch das Geschäftsleben ist ein «long game». Denn auch dort gilt: «vo nüt chunnt nüt». Wenn ich mich also engagiere und Gas gebe, kommt das gut.
Was können Sie noch mitnehmen?
Zum Beispiel habe ich jetzt vertiefte Einblicke in die Bereiche Marketing, Kommunikation oder Sponsoring. So bin ich heute bei Sponsoringverhandlungen viel sicherer als früher. Auch auf Social Media bin ich sehr fit und sattelfest.
Gibt es Eigenschaften, die man nicht brauchen kann?
Meine Kernkompetenz war es, die weltbesten Links- und Rechtskurven auf dem Snowboard zu fahren, das ist ab sofort irrelevant. Allerdings habe ich mein Karriereende antizipiert und mich mit einem Studium darauf vorbereitet.
Wie halten Sie es mit der Bewegung?
Momentan bin ich immer noch etwas müde von der Saison, so wie als aktiver Profi auch schon. Ich mache nur Sport, wenn ich Lust habe. Dann fahre ich Mountainbike, das gefällt mir sehr. Dort mache ich auch kleinere Rennen mit meinen Kollegen.
Der Nationalpark Bike-Marathon sucht gerade einen neuen OK-Präsidenten, wäre das was für Sie?
Tja, ich weiss nicht. Eigentlich fahre ich lieber selber Rennen, als diese zu organisieren.
Stichwort Essen und Bewegung, nimmt man da automatisch zu, weil man sich nicht mehr so viel bewegt?
Ich achte auf eine gesunde Ernährung und will nicht extrem übergewichtig werden, allerdings auch nicht ultraschlank. Bis jetzt gelingt mir das gut.
Haben Sie Angst vor dem neuen Leben?
Im Gegenteil, ich freue mich mega darauf. Ich habe Freude, verspüre eine innere Zufriedenheit und das Vertrauen, dass alles gut kommt.
Was werden Sie denn in Zukunft machen?
Das ist noch nicht ganz sicher, momentan stecke ich mitten im Bewerbungsprozess. Ich bekomme Angebote, aber auch Absagen, wie alle, die ein Studium abgeschlossen haben.
Was haben Sie denn studiert?
Ich habe einen Bachelor in Betriebsökonomie und einen Master in Business Administration mit Vertiefung Innovationsmanagement. Dabei geht es darum, Strategien zu erarbeiten, wie gute Ideen in die Praxis umgesetzt werden. Auch darin habe ich als Athlet eine gewisse Erfahrung, denn ich musste mir immer wieder überlegen, wie ich mein Training verbessern kann. Das ist wie in der Wirtschaft.