Not Carl, Sie setzen sich für die Bahnverbindung Scuol-Val Müstair-Mals ein, weshalb?
Weil die ÖV-Mobilität auch im Berggebiet gefördert werden muss, weil Scuol und Mals bloss 20 Kilometer Luftlinie auseinanderliegen, weil der Zeitpunkt für eine internationale Finanzierung des Vorhabens noch nie so günstig war, und weil dies eine einmalige Chance für viele bedeutet. Wäre 1914 der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen, hätte das Engadin schon lange eine Bahnverbindung nach Tirol und Südtirol. Mit relativ wenig Geld kann man heute eine der attraktivsten Bahnverbindungen des Alpenkamms realisieren, und zwar Ost-West wie Nord-Süd und zudem genau zwischen den Hauptachsen Gotthard und Brenner.
Besteht denn nicht die Gefahr, dass die Leute in Scuol gar nicht mehr aussteigen, sondern gleich nach Südtirol durchfahren?
Ein «Durchfahren» ist schon technisch nicht möglich, weil in Scuol von der Normalspur der Vinschgerbahn auf die Schmalspur der Rhätischen Bahn gewechselt würde. Die Passagiere müssten also in jedem Fall in Scuol aussteigen. Zudem ist das Unterengadin ja landschaftlich attraktiv mit den schmucken Dörfern und den vielfältigen Möglichkeiten. Es hat ein tolles Erlebnisbad, es beherbergt den Schweizerischen Nationalpark und hat auch kulturell einiges zu bieten, wenn ich nur an die Aushängeschilder Schloss Tarasp von Not Vital, das Muzeum in Susch oder an das Künstlerhaus in Nairs denke. Zudem zeigen Beispiele wie der Glacier- und Bernina Express, wie stark auch «Zwischenstationen» vom Erfolg einer attraktiven Gesamtstrecke profitieren, und dies sogar ohne Spurwechsel (Pontresina, Samedan, Poschiavo, Andermatt, Brig etc. sind Beispiele). Zur Erinnerung: Seit dem Relaunch von vor gut 30 Jahren sind über 8 Millionen Passagiere aus der ganzen Welt mit dem Glacier Express gefahren, und sie zahlen in der neuen Excellence Class 700 Franken für die achtstündige Panoramafahrt. Das ist echte Wertschöpfung in sogenannt potential-armen Bergregionen! Zudem darf man nicht vergessen, dass das Unterengadin plötzlich eine direkte Bahnverbindung zur wirtschaftlich boomenden östlichen Poebene mit ihren etwa 10 Millionen Einwohnern hätte.
Weshalb braucht es denn diese Verbindung unbedingt und gerade jetzt?
Das Unterengadin muss sein Potenzial ausschöpfen, um die Abwanderung zu stoppen. Wie gesagt, der Moment für die Finanzierung der Bahnverbindung Engadin-Vinschgau war noch nie so günstig, da die jetzige Südtiroler Regierung diese unbedingt will und dafür auch eine bedeutende Mitbeteiligung der EU in Aussicht stellt. Wir rechnen damit, dass die Verbindung etwa eine Milliarde Franken kostet und davon der Schweiz etwa 300 Millionen verbleiben. Ein Pappenstiel, wenn man bedenkt, dass die NEAT mit Gotthard-Basistunnel, Ceneri und Lötschberg die Schweiz 20 Milliarden Franken gekostet hat und die Schweiz sogar Zufahrtsstrecken im Ausland vorfinanziert hat. Zudem liegt Scuol-Mals auch im Klimatrend und im «Green Deal» der EU, mindestens 19 Kilometer im Berg, wenig Landschaftsbelastung, kein Lärm, und die Bahn würde durch saubere Bündner Wasserkraft angetrieben. Diese Chance darf unsere Generation zugunsten der nachfolgenden einfach nicht verpassen.
Sie sehen das Projekt auch als Kitt und Verbindung für die Terra Raetica.
Ja, natürlich. Der Begriff «Terra Raetica» stammt ja aus der Zeit, als die Römer bis vor 2000 Jahren in unserem Dreiländereck waren. Noch heute werden in diesem Dreiländereck ja das Deutsche, das Italienische und das Romanische gesprochen und gepflegt. Die Ladiner im Südtirol sprechen ein ähnliches Rätoromanisch wie wir und eine Bahnverbindung würde das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und den Spracherhalt fördern. Und schliesslich kommen jeden Tag auch etwa 300 Südtiroler ins Unterengadin, um einer Arbeit nachzugehen, viele auch im Pflegebereich.
Haben Sie das Projekt auch deshalb gestartet, damit Sie nicht einfach untätig zu Hause rumsitzen müssen und stattdessen wieder etwas unter die Leute kommen?
(lacht) Die Gefahr, dass ich untätig zuhause herumsitze, bestand nie. Ich bin einfach der Auffassung, dass man die Zeit auf Erden optimal nutzen sollte, jeder nach seinen Fähigkeiten. Es gibt Befriedigung, stärkt die Gesundheit und vor allem, es motiviert Jugendliche. So habe ich heute mit Dario Giovanoli einen jungen Scuoler Anwalt, der sich nun für die Bahnverbindung mehr einsetzt als ich und sogar dafür gesorgt hat, dass in der Region und in Scuol die Planungsvoraussetzungen für die Bahnverbindung geschaffen wurden. Das macht riesige Freude!
Um dem Anliegen Gehör zu verschaffen, haben Sie im Oktober 2019 die Gruppe «Pro Bahnverbindung Scuol-Mals» gegründet. Mittlerweile hat die Gruppe 2700, also fast 3000 Mitglieder. Sind Sie ein derart guter Netzwerker oder stösst das Projekt tatsächlich auf so grosses Interesse?
Ich denke, beides ist richtig. Bei meiner Gruppe zur Rettung der einzigen Disco in Scuol waren es kaum 1000 Mitglieder, die mitmachten. Sie war aber trotzdem erfolgreich. Nun sind es mit bald 3000 sehr viel mehr, was aber zeigt, dass die ganze Region hinter dem Anliegen steht, was uns zusätzlich motiviert.
Interessant daran wäre ja auch, dass der Südtiroler Landeshauptmann Kompatscher sagt, dass Südtirol sich mit 75 Prozent an den Kosten beteiligen würde. Wie ist da der Stand?
Nun, die Südtiroler Regierung hat oft verlauten lassen, es fehle der Schweiz und Graubünden an Interesse. Nachdem sich nun der Bündner Grosse Rat letzthin mit 105 zu 0 zum Alpendreieck bekannt hat, kann sie das nicht mehr behaupten. Der Ball liegt nun eindeutig bei ihr, zumal Südtirol dieses Jahr die Federführung in der Angelegenheit innehat. Ich persönlich bin überzeugt, dass das klare Resultat aus Graubünden auch die Südtiroler Regierung entsprechend motiviert.
Mittlerweile haben Sie es geschafft, auch Bundesbern für das Projekt zu interessieren. Steht der Umsetzung also nichts mehr im Weg?
Ja, wir haben heute tatsächlich klare Zeichen, dass sich alle Bündner Bundesparlamentarier hinter das Anliegen stellen. Zunächst müssen aber die Regierungen von Tirol, Südtirol, der Lombardei und Graubünden sich darüber einigen, welche Variante im Dreiländereck Priorität haben soll. Wir hoffen, dass das federführende Südtirol, motiviert durch den Entscheid aus Graubünden, nun Gas gibt und diesen Entscheid bis Ende Jahr herbeiführt, und natürlich hoffen wir dabei auf Mals-VM-Scuol.
Falls alles klappt, könnte bereits im Jahre 2032 der erste Zug fahren. Sie sind dann 82, welches Projekt starten Sie dann?
Ich selber werde nie durch einen Tunnel nach Mals fahren, da dies frühestens in 20 Jahren möglich sein wird. Ich bin aber davon überzeugt, dass meine Kinder und Enkel dies tun werden und dabei an ihren Vater und Grossvater denken. Das allein ist mir Motivation genug, um weiter zu kämpfen und nicht an weitere Projekte zu denken.