Vom Niemandsland zum Bartgeier-Hotspot – 30 Jahre nach dem Start der Wiederansiedlung

Daniel Hegglin und David Jenny, Stiftung Pro Bartgeier Der Blick nach oben lohnt sich in den Bündner Bergen. Nirgendwo sonst in den Alpen leben so viele Bartgeier. Dank seiner Wiederansiedlung in der Schweiz, die vor 30 Jahren ihren Anfang im Schweizerischen Nationalpark nahm, leben in Graubünden heute bereits 16 Brutpaare, Tendenz steigend.

Der 5. Juni 1991 war ein besonderer Tag für die Natur Graubündens. Begleitet von einem grossen Publikum und einem langen Medientross wurden die drei jungen Bartgeier Margunet, Settschient und Moische im Schweizerischen Nationalpark ausgewildert. Die drei rund drei Monate alten und noch nicht flugfähigen Bartgeier wurden von den Parkwächtern von der Ofenpassstrasse aus in holzigen Räfs in eine kleine Felsnische am Ende der Val Stabelchod getragen. Reichlich mit Futter versorgt und von einem Projektteam durchgehend überwacht, entwickelten sich die drei Jungtiere prächtig. Am 15. Juni war es dann so weit. Mehr als 100 Jahre nach der Ausrottung des Bartgeiers in der Schweiz hob erstmals wieder ein Bartgeier in den Schweizer Alpen ab. Margunets erster Flug war noch wacklig und kurz, dennoch war dies für die Rückkehr des Bartgeiers ein wahrhaft historischer Moment.

Parkwächter des Schweizerischen Nationalparks tragen junge Bartgeier zur Auswilderung in die Aussetzungsnische in der Val Stabelchod. Insgesamt 26 Junggeier konnten von 1991 bis 2007 im Park ausgewildert werden.
Parkwächter des Schweizerischen Nationalparks tragen junge Bartgeier zur Auswilderung in die Aussetzungsnische in der Val Stabelchod. Insgesamt 26 Junggeier konnten von 1991 bis 2007 im Park ausgewildert werden. © Hans Lozza

Dahinter liegt eine lange Geschichte. Den Bartgeiern, die mit ihrer Spannweite von nahezu drei Metern, einem schwarzen Bart und feurig rot leuchtenden Augen beeindrucken, wurden in historischen Zeiten schaurige Geschichten angedichtet. Der Theologe und Naturwissenschaftler Friedrich von Tschudi schreibt in seinem 1853 erstmals erschienen Standardwerk «Das Thierleben der Alpen» dramatisch: «Die Thiere der Alpen weiden ruhig, ohne die tödtende Wolke zu ahnen, die in unendlicher Höhe über ihnen schwebt (…). Plötzlich mit zusammengeschlagenen Flügeln fällt von hinten (…) der Geier auf sie herab. Es gibt keine Flucht mehr und kein Versteck; sie sind verloren, ehe sie den Rettungsgedanken gefasst haben, und folgen zuckend dem Räuber in die Lüfte.» Und an anderer Stelle: «Ohne allen Grund hat man bezweifelt, dass die Lämmergeier auch Kinder angreifen. Es sind verbürgte Beispiele solcher Unglücksfälle zur Genüge bekannt.»

Kein Wunder, wurde dem Bartgeier nachgestellt. Die Verbreitung von Schusswaffen im 19. Jahrhundert und attraktive Abschussprämien aus Kantonskassen wirkten fatal. So flog 1885 flog bei Vrin im Lugnez (GR) letztmals ein Jungvogel aus einem Schweizer Bartgeierhorst. Der letzte dokumentierte Abschuss aus dem Alpenraum datiert vom Jahr 1913.

Das Verschwinden dieses riesigen Seglers wurde in interessierten Kreisen früh bedauert. Bereits 1922 reichte der Steinadlerforscher Carl Stemmler ein Gesuch für die Aussetzung von Bartgeiern im Nationalpark ein. Erst in den 70er-Jahren startete jedoch ein erstes Projekt in den Savoyer Alpen. Der Versuch mit aus Afghanistan und Pakistan importieren Wildvögeln scheiterte jedoch schnell. Die meisten der importierten Tiere starben bereits kurz nach der Ankunft in der neuen Heimat.

Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass eine Wiederansiedlung nur mit der Auswilderung von Jungtieren gelingen kann. Kurz vor dem Ausfliegen ausgewildert, können sich die Tiere bereits in ihrer Jugend ihrem Lebensraum in den Alpen anpassen. Deshalb wurde ein internationales Zuchtprogramm, das Europäische Erhaltungszuchtprogramm für Bartgeier, aufgebaut, an dem sich auch der Natur- und Tierpark Goldau und der Zoo La Garenne aus der Schweiz beteiligen.

Der Aufbau der Zucht und die Ausarbeitung der Wiederansiedlungsstrategie, an der die Bündner Wildbiologen Chasper Buchli und Jürg Paul Müller mit umfassenden Habitatstudien wesentlich beteiligt waren, brauchte jedoch Zeit. 1986 war es dann so weit. Im österreichischen Nationalpark Hohe Tauern wurden erstmals junge Bartgeier ausgewildert. 1987 fand die erste Freisetzung in Hoch-Savoyen statt, 1991 folgten die ersten Auswilderungen im Schweizerischen Nationalpark und 1993 in den Südalpen.

Entgegen früherer Auffassung kommen Partnerwechsel bei Bartgeiern immer wieder vor. Beim Oberengadiner Bartgeierpaar Albula wechselte der männliche Partner bereits dreimal. Beim Weibchen handelt es sich hingegen seit der ersten erfolgreichen Brut an diesem Standort um Diana-Stelvio – einem wildgeschlüpften Bartgeier von Bormio aus dem Jahr 2000
Entgegen früherer Auffassung kommen Partnerwechsel bei Bartgeiern immer wieder vor. Beim Oberengadiner Bartgeierpaar Albula wechselte der männliche Partner bereits dreimal. Beim Weibchen handelt es sich hingegen seit der ersten erfolgreichen Brut an diesem Standort um Diana-Stelvio – einem wildgeschlüpften Bartgeier von Bormio aus dem Jahr 2000 © David Jenny

Die grossen und ausdauernden Bemühungen im Schweizerischen Nationalparks zahlten sich aus. 26 Junggeier konnten von 1991 bis 2007 im Park ausgewildert werden. Weitere 11 Jungtiere wurden im benachbarten Nationalpark Stilfserjoch freigesetzt. Diese Tiere bildeten die Basis für die produktivste Teilpopulation im ganzen Alpenraum. Die erste Wildbrut in den Alpen glückte zwar in Hochsavoyen, doch bereits im Jahr darauf doppelte das Brutpaar bei Bormio nach, das sich nur rund 20 Kilometer vom Freilassungsort im Schweizerischen Nationalpark entfernt niedergelassen hatte. Seit 2007 brüteten Bartgeier alljährlich auch wieder in der Schweiz. Dabei haben sich das Engadin und die benachbarten Talschaften zum eigentlichen Bartgeier-Hotspot entwickelt. In Graubünden siedeln bis heute bereits 16 Bartgeierpaare, 13 davon haben schon erfolgreich gebrütet. Dies entspricht rund einem Viertel des Brutvogelbestands des Alpenraums!

Insgesamt leben im Alpenraum inzwischen rund 300 Vögel. Dies ist beachtlich, doch bei der Beurteilung des Wiederansiedlungsprojekts sind nicht nur numerische Kriterien zu berücksichtigen. Defizite bestehen aktuell bei der genetischen Diversität. Deshalb werden in der Zentralschweiz weiterhin alljährlich nach genetischen Kriterien ausgewählte Bartgeier ausgewildert.

Das Ziel der Stiftung Pro Bartgeier, die die Wiederansiedlung in der Schweiz koordiniert und durchführt, ist es, dass sich im Alpenraum wieder ein vitaler, sich selbst erhaltender Bartgeierbestand aufbaut. Dazu haben wir in der Schweiz die besten Voraussetzungen. Anders als in vielen anderen Ländern, wo Bartgeier früher weit verbreitet waren, haben wir gute Wildtierbestände, und Vergiftungen oder Wilderei sind nur selten ein Problem. So sind wir optimistisch, in einigen Jahren die letzte Bartgeierauswilderung feiern zu können! Bis dahin und darüber hinaus hoffen wir, dass der Bartgeier all die Unterstützung bekommt, die er braucht, um als fester Bestandteil unserer Bergwelt leben zu können.

Bereits 16 Paare siedeln in Graubünden. Fünf davon haben ihr Territorium im Schweizerischen Nationalpark. Das Männchen des Brutpaars Trupchun – hier oberhalb S-chanf – zieht aktuell seinen dritten Jungvogel auf.
Bereits 16 Paare siedeln in Graubünden. Fünf davon haben ihr Territorium im Schweizerischen Nationalpark. Das Männchen des Brutpaars Trupchun – hier oberhalb S-chanf – zieht aktuell seinen dritten Jungvogel auf. © David Jenny
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Vortragshinweis
NATURAMA-Vortrag, Zernez, 29. Sept. 21: «Die Bartgeier im Alpenraum», D. Hegglin & D. Jenny.


Buchtipp
«Der Bartgeier – Seine erfolgreiche Wiederansiedlung in den Alpen», 1. Auflage 2021, Haupt-Verlag


Website
www.bartgeier.ch

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