Bisher bot der Schweizerische Nationalpark (SNP) auf dieser Route keine öffentlichen Exkursionen an. Diesen Sommer führt an zwei Tagen ein Guide die gemischte Gästegruppe von der Hüttenterrasse aus über den Murtersattel bis zum P3 an der Ofenpass-Postautolinie. Unterwegs setzt er mit seinem Fernrohr die Besonderheiten in Szene, haucht uralten Geschichten neues Leben ein, berichtet über brandneue Fakten aus der Forschung und enthüllt Verblüffendes über natürliche Prozesse und deren Schutz im Park.
Ein paar Müsterchen gefällig?
Es war einmal…
Bereits 1909 wurde die Val Cluozza unter Schutz gestellt. Das Tal ist somit die Urzelle des erst 1914 gegründeten SNP.
Wenn Sie von Zernez aus unterwegs zur Chamanna Cluozza sind und bei Fops Ihren Blick über das Tal schweifen lassen, dann bleibt er vielleicht an den Hängen der Terza-Kette hängen, wo Gämsen äsen. Hier stieg einst der Zernezer Gemeinderat Curdin Grass mit seinem Gewehr diesen Kletterkünstlern nach. Was wohl alles durch seinen Kopf gegangen ist, als er damals in «sein» Tal blickte und mit sich rang, ob er der Idee dieser neumodischen Naturschützer nachgeben sollte? Ausgerechnet hier, wo er seine Jagdhütte hatte, wollten diese ein Schutzgebiet errichten, in dem man dann nichts mehr tun durfte: Weder holzen noch jagen, nicht einmal den Weg verlassen.
Andere fanden, das Tal sei sowieso zu nichts mehr Nutze. Einst weideten hier grosse Schafherden aus Italien, und Zernez erhielt Pachtzinsen dafür. Seit die Schafe wegen der Maul- und Klauenseuche in Italien nicht mehr über die Grenze durften, fehlte dieses Geld in der Gemeindekasse …
Das Tal lädt dazu ein, über Jägerlatein nachzudenken oder sich einen historischen Roman auszuschmücken. Die Gedankenspiele dazu sind ganz Ihnen überlassen – die eigentliche Exkursion beginnt erst am Folgetag auf der Hüttenterrasse.
Curdin Grass haben Sie schon kennengelernt. Er war es auch, der 1910 den Auftrag erhielt, die Chamanna Cluozza zu erbauen. Die wenigen Leute, die damals das Tal besuchen oder erforschen wollten und der erste Parkwächter mit seiner Familie sollten ein schützendes Dach über dem Kopf haben. Heute erzählt der Bau an manchen Stellen von kreativen Um-, An- und Ausbauten. Finden Sie die verräterischen Zeichen?
Im Turm, der 2021 neben der Hütte erstellt wurde, wohnt jetzt die Hüttencrew.
Ein Tal wie ein Bilderbuch
Alle Wege in die Val Cluozza führen über eine Fuorcla oder eine Anhöhe. Sie bieten grossartige Weit- und Tiefblicke. Was für Bilder! Auf der Route über die Fuorcla Murter machen die Gäste oft Fotos von Murmeltieren, Gämsen, Hirschen und Steinböcken. Im letzten Sommer wurde sogar ein Wolf aufgenommen. Welche neuen Geschichten dieser wohl im SNP schreibt? Ihr Guide gewährt Einblick in Erkenntnisse und offene Fragen der Forschung im Park und reichert diese mit faszinierenden Geschichten über die Lebensweise der Tiere an. Sein Fernrohr gewährt einen Blick in die Augen der Wildtiere. Auch für alle, die nicht so geübt sind darin, die Tiere in der weiten Landschaft zu entdecken.
Mordwaffen am Wanderweg
Sie mögen lieber Krimis? Über Jahrhunderte wurde im Alpenraum Pfeilgift aus dem Schildblättrigen Hahnenfuss gewonnen (siehe Bild). Entdecken Sie ihn beidseits der Fuorcla Murter am Wanderweg! Sollte er bereits verblüht sein, finden Sie noch seine auffälligen Blätter unter den Legföhren auf dem kargen Boden liegen. Das genaue Pfeilgift-Rezept kennen wir allerdings nicht. Macht nichts, Sie dürfen im SNP sowieso keine Pflanzenteile ernten, um daraus Rohstoffe zu gewinnen. Stoff bekommen Sie hier nur für neue Geschichten. Auf den nächsten Höhenmetern können Sie an diesen weiter fantasieren. Sie werden Sie ablenken von den Schweissperlen, die der Aufstieg fordert.
Für die Botaniker*innen unter Ihnen hält die Wanderung weitere «Leckerbissen» bereit. Aber Achtung: Nicht wörtlich nehmen! Auch der Herzblatt-Hahnenfuss (Ranunculus parnassiifolius) ist giftig. Und geschützt sind sie hier alle.
Strandgeschichten für die Ewigkeit
Mit der nächsten Story führt Sie Ihr Guide vielleicht ans Meer:
Das Gestein der Val Cluozza entstand vor vielen Jahren im Thetys-Ozean und wurde später hierher geschoben und aufgefaltet. Deshalb können geübte Augen darin versteinerte Korallenstöcke als weisse Stäbchen erkennen. Aus längst vergangener Zeit stammen auch die Trittsiegel, die ein Dinosaurier vor etwa 220 Millionen Jahren hinterlassen hat. Er machte auf seinen Hinterfüssen Schritte von einem Meter Länge. Heute können wir sie durch das Fernrohr an einer fast senkrechten Felsplatte am Piz dal Diavel erkennen. Entstanden sind sie in einer seichten Lagune, bei subtropischem Klima.
Die Einladung gilt auch hier: Spinnen Sie die Strandgeschichten über Raubfische, Ammoniten und Fischsaurier weiter. Und überhaupt, hören Sie ihr gut zu: Die Val Cluozza erzählt allen eine ganz eigene Geschichte.