Ein milder, sonniger Spätsommertag sei der 5. September 1872 gewesen, schreibt Paul Grimm im Buch «Fö, fö! I arda, i arda!». Die meisten Zernezer*innen arbeiteten auf den Feldern. Sie brachten das Emd, den zweiten Grasschnitt, ein und ernteten Getreide. Da ertönte gegen 6.00 Uhr abends plötzlich der Ruf «Fö, fö! I arda, i arda!». Bei der Schlosserei von Nicolin Serardi, in der Nähe des heutigen «Crusch Alba», brannte es. Sofort rannten alle ins Dorf und versuchten, aus ihren Häusern das Wichtigste zu retten. Hühner und Schweine liessen sie frei und trieben sie auf einer Wiese zusammen. Das Grossvieh war glücklicherweise noch auf der Alp. Derweil schossen die Flammen in die Höhe und die Funken und Flammen sprangen von einem Haus zum andern und fanden in den Holzdächern und den gut gefüllten Heustöcken vorzügliche Nahrung. Der Wind fachte das Feuer zusätzlich an und trieb die Flammen vom einen Dorfende zum anderen. Innert kürzester Zeit stand ein Grossteil des Dorfes in Flammen.
Schlecht organisiert
Wie oft bei Katastrophen kommt ein Unglück selten allein. So weilte Nicolin Serardi, bei dem das Feuer ausbrach, der aber auch Feuerwehrkommandant war, in Scuol. Seine Söhne waren an einem Fest im Val Müstair. Regierungsstatthalter Andrea Bezzola war mit Pfarrer Otto Guidon auf der Jagd im Val Laschadura. Dort sahen sie wohl den Feuerschein am Himmel, glaubten aber, es sei eine Art Nordlicht. 18 junge Zernezer befanden sich zu der Zeit im Militärdienst in St. Gallen, weshalb die Feuerwehr erheblich geschwächt war und die Organisation fehlte. Lange Schläuche für die Spritze fehlten, weshalb Eimer von Hand zu Hand weitergegeben wurden, was aber praktisch wirkungslos war. Im Hotel Bären hatte Telegrafist Rudolf Bezzola sein Büro, konnte aber keine Depesche nach Susch absetzen, weil die Leitung in Reparatur war. Die Ämter im Oberengadin erreichte er nicht, weil dort die Büros wie üblich zwischen 18.00 und 20.00 Uhr geschlossen waren. Zudem besagt die Legende, dass eine Frau anstelle des eingepackten Silberschmucks ihr Kleinkind die Treppe hinuntergeworfen habe. Erst ein Meldereiter konnte die umliegenden Dörfer verständigen, worauf dann Susch als erste Mannschaft eintraf, jedoch nichts mehr ausrichten konnte. Den Mannschaften aus dem Oberengadin gelang es immerhin, das Schloss und den Dorfteil Runatsch zu retten.
Doch schlussendlich war die Bilanz verheerend. Von 157 Häusern brannten deren 118 ab, 400 Menschen wurden obdachlos. Der finanzielle Schaden wurde auf rund 1'155'000 Franken geschätzt.
Unmittelbar nach dem Brand gründete sich ein Hilfskomitee, das sich daran machte, Geld für den Wiederaufbau und die Entschädigung der Brandopfer zu sammeln. Versichert waren damals die wenigsten. Doch die gegenseitige Hilfe und die Solidarität im Dorf waren gross und der Tatendrang nach dem Wiederaufbau stark.
Geplanter Wiederaufbau
Bereits am 7. Oktober entschied dann die Gemeindeversammlung, dass der abgebrannte Ortsteil nach einem Plan wieder aufgebaut werden sollte. Schliesslich liess der Kanton zwei Pläne ausarbeiten, einen durch den Baumeister Nicolaus Hartmann in St. Moritz und einen durch das kantonale technische Büro, vertreten durch Oberingenieur Friedrich Salis aus Samedan. Salis sah dabei eine radikale Variante vor. Er wollte die Dorfstrasse vom Brandherd bis zur Abzweigung zur Ofenpassstrasse schnurgerade ziehen und die Häuser links und rechts davon in einem Raster nach amerikanischem Vorbild aufbauen. Hartmann war etwas zurückhaltender in seiner Planung und sah vor, die Häuser, wenn möglich, wieder auf ihren Fundamenten aufzubauen, auch damit die Besitzer wenigstens etwas Geld sparen konnten. Schliesslich erfolgte der Wiederaufbau eher gemäss dem Plan von Hartmann, mit breiten Strassen und grosszügigen Abständen zwischen den Häusern, auch als Brandschutz. Die Dächer mussten, wie in Lavin auch, mit Holzzement gedeckt werden. Schindeln waren nicht mehr erlaubt. Bereits 1873 war die Strassenverbindung wieder intakt und bis ins Jahr 1879 waren 60 der niedergebrannten Häuser wieder aufgebaut. Dazu war aber zuvor eine Enteignung der Eigentümer mit anschliessender Neuzuteilung nötig, was ein eher schwieriges Unterfangen war, wie Grimm in seinem Buch eindrücklich aufzeigt.
Nie ganz geklärt werden konnte die Brandursache. Erst wurde Luzi Filli verdächtigt. Er war Serardis Nachbar und mit diesem verfeindet. Filli sass ein Jahr in Untersuchungshaft, doch es konnte ihm nichts nachgewiesen werden und er wurde mangels Beweisen freigesprochen. Allerdings war er persönlich ruiniert und nahm sich 1878 das Leben.
Möglich ist aber auch, dass sich der Brand in einer Kiste hinter dem Haus entzündete. Darin lagerten Stofflappen, die allenfalls in Leinöl getränkt waren und sich selber entzündeten.