Wir machen Mut, den eigenen Ton zu finden

Jürg Wirth Die Schriftstellerin Angelika Overath und ihr Mann, Literaturwissenschaftler Manfred Koch, wohnen seit Jahren in Sent und organiseren dort regelmässig Schreibwochen. Im Interview sprechen sie unter anderem über die eigene Sprache und ob Grammatik wichtig ist.

Kann ich bei euch Schriftsteller*in werden?

Ja. Nicht weil wir dich begabter machen können, als du bist, aber du kannst bei uns lernen, was an deiner Sprache besonders ist. Wo du gut bist und wo du noch etwas lernen kannst. Es ist sehr wichtig, dass wir in der Gruppe arbeiten. Alle bekommen dieselbe Schreibaufgabe, haben dann zwischen fünf und zwanzig Minuten Zeit und lesen reihum vor, was sie geschrieben haben. Es gibt sehr verschiedene Arten, eine Schreibaufgabe zu lösen. Beim Fünf-Wörter-Spiel zum Beispiel geht es darum, aus Wörtern, die nicht zusammenpassen, einen Text zu entwickeln. Die einen schreiben eine Alltagsszene, die anderen einen Mini-Krimi, manche ein Märchen oder auch nur einen Dialog. Durch den Vergleich mit den anderen sehe ich, was meinen Text besonders macht. Da die Schreibzeit festgelegt ist, gibt es keine Schreibblockade. Alle schreiben erst mal drauflos.

Wichtig bei uns ist die Gruppendynamik, also, dass sich die Gruppe findet. Wenn sich die Schreibenden füreinander interessieren, ist der Kurs fast ein Selbstläufer. Es sind in den Kursen schon Freundschaften entstanden!

Da wir kein All-inclusive-Angebot bieten, sondern nur die Schreibkurse, sechs Stunden am Tag, kommen zu uns wirklich interessierte Menschen. Wir geben Hinweise, wo sie in Sent schlafen und essen können, aber sie müssen das selbst organisieren.

Wie wird man überhaupt Schriftsteller*in?

Schriftsteller*in wird man, wenn Schreiben ein Lebensmittel ist. Wenn Sprache als wichtiger Teil zum Leben gehört. Selbstverständlich kann man auch Schriftsteller*in werden, ohne Schreibkurse zu besuchen. Trotzdem können Kurse helfen. Auch wenn man ordentlich Ski fahren kann, ist es gut, wenn einen jemanden auf die erste Skitour mitnimmt, jemand, der sich im Gelände auskennt. Jemand, der die Gefahren kennt. Wir machen sprachliche Orientierungsläufe.

So üben wir, Gedichte in Prosa umzuschreiben und aus Prosa Verse zu machen, und beobachten, wie die jeweilige Form sich auf den Inhalt auswirkt. Wir gehen auf den Friedhof von Sent, lassen ihn auf uns wirken. Die Gräber der Einheimischen mit den naturbelassenen Steinen, die marmornen Prunkgräber der Randulins, der Blick hinüber auf die Engadiner Dolomiten. Jeder nimmt etwas anderes mit.

Ihr bietet nun im dritten Jahr die Schreibkurse in Sent an, weshalb macht ihr das?

Weil wir es gerne machen. Früher habe ich am MAZ in Luzern unterrichtet, oder wir haben Schreibwochen im Kulturhotel Laudinella in St. Moritz gegeben, aber irgendwann haben wir uns überlegt, ob wir wirklich immer so viel reisen wollen. Wir leben in Sent. Warum nicht hier Schreibkurse anbieten? Unsere Schule ist die erste Schule für kreatives Schreiben im Engadin. Sonst gibt es Schreibkurse vor allem in grösseren Städten. Zu uns kommen auch Menschen, die sich für Sent interessieren.

Und ja, es ist ein durchaus willkommenes Einkommen, da wir beide keine grossen Renten haben. Allerdings wollen wir mit unserem Kurs auch nicht zu teuer sein, wir orientieren uns an den Honoraren für Skilehrer*innen. Und wir liegen preislich weit unter dem MAZ.

Und was lernt man da?

Aufmerksam sein. Den Dingen gegenüber, dem Empfinden gegenüber, der Sprache gegenüber. Bei einer Übung legen wir Steine aus. Flusskiesel, Schiefer, Steine mit Einschlüssen, glatte, rauhe. Alle suchen sich einen aus. Sie beschreiben ihn und erzählen dann, warum sie diesen Stein gewählt haben. Auch Wörter haben wie Steine einen Körper. Sie bezeichnen nicht nur, sie sind auch leibhaftig. Ob ich eine gelbe Rübe, eine Karotte, eine Möhre oder ein Rüebli auf dem Tisch liegen habe oder im Mund kaue: es ist dasselbe Gemüse. Aber im Text macht es einen grossen Unterschied, welches Wort ich verwende.

Ein guter Text hat eine Erlebnisqualität, du machst lesend eine Erfahrung.

Interessant ist, dass die Teilnehmenden oft dieselben Fehler machen. Sie erklären eine Figur, statt sie zu zeigen. Eine Frau, die traurig ist, geht anders über die Strasse als eine Frau, die frisch verliebt ist. Das lässt sich beschreiben. Details sind wichtig. Wir warnen auch vor wertenden Adjektiven, die einen Text zukleistern. Ein guter Text lässt der Leserschaft die Freiheit, selbst etwas zu verstehen. Wir versuchen, auf Kitsch zu sensibilisieren. Wobei wir unseren Autor*innen immer die Freiheit lassen, zu entscheiden, was sie schön finden. Manchmal ist es schon eine Hilfe, Fragen zu stellen. Braucht es dieses Wort? Oder wäre der Text nicht vielleicht stärker, wenn man es streichen würde?

Braucht es dafür ein Germanistikstudium?

Das muss sicher nicht sein. Wir hatten einmal einen Mann aus Südtirol, Sohn einer kinderreichen Familie, der hat Geschichten aus seinem Leben erzählt, da hat uns der Atem gestockt. Da ist man nur dagesessen und hat erst mal nichts sagen können. Also zu viel Bildung kann auch verbilden. «Schlauseinwollen» ist beim Schreiben immer gefährlich. Wichtiger wäre das Staunen.

Wie wichtig sind Grammatik und Rechtschreibung?

Wir haben auch Kurse für Pro Juventute gegeben. Viele Kinder haben Angst davor, Schreibfehler zu machen. Das ist sehr, sehr schade. Denn sie haben etwas zu erzählen, das nur sie erzählen können. Grammatik- oder Rechtschreibfehler zu verbessern, ist dann nicht das Problem. In den Verlagen gibt es dafür Lektor*innen und Korrektor*innen. Und lustig ist, dass sich auch ausgebildete Korrektor*innen oft nicht einig sind.

Worin unterscheidet sich literarisches Schreiben vom journalistischen Schreiben?

Das muss sich nicht unterscheiden. Du schreibst zum Beispiel literarische Reportagen. Eigentlich ist alles, was über den Wetterbericht hinausgeht, schon ein Erzählen. Und mit dem Erzählen beginnt Literatur. Natürlich gibt es bessere und schlechtere Literatur. Aber in unseren Kursen werten wir nicht. Wir geben nur Hinweise, wie man einen Text härter oder weicher machen kann, wie man ihn verständlicher oder spannender gestalten könnte.

Gutes Schreiben bedeutet Sorgfalt und Geduld beim Überarbeiten. Und natürlich sollte man auch etwas zu sagen haben, etwas, das einen selbst berührt. Sonst kann ich andere nicht berühren.

Was ist das Ziel des Kurses?

Dass die Teilnehmenden hinterher besser schreiben als vorher, und das tun sie. Und dass sie am Schreiben dranbleiben, das tun sie meist auch. So hat sich bei der letzten Abschlusslesung, wo sich die Schreibenden aus den verschiedenen Gruppen kennenlernen konnten, eine Schreibgruppe in Chur gebildet, die nun regelmässig zusammenkommt.

Mittlerweile gibt es doch schon relativ viele Leute, die Bücher schreiben. Soll man das noch fördern?

Schreiben ist immer eine Intensivierung des Lebens. Wie Kunst überhaupt! Und in Sent leisten wir mit unseren Kursen auch einen Beitrag zu einem nachhaltigen Tourismus. Die meisten kommen mit dem Zug, sie schreiben und leben hier im Dorf, und die meisten kommen wieder. Wir haben Menschen aus allen Berufen, die Krankenpflegerin aus dem Oberengadin, den pensionierten Geiger der Zürcher Oper, die junge Journalistin aus Bern. Wichtig ist uns auch, auf das Rätoromanische hinzuweisen. In allen Kursen sprechen wir über rätoromanische Hausinschriften oder Redewendungen. Manche unserer Teilnehmenden schreiben auch translingual in Vallader und Deutsch. Ein eigener Kurs ist für Personen gedacht, die sich speziell für das Rätoromanische interessieren. Er heisst «Rätoromanische Augenblicke im Gedicht».

Was fasziniert euch an der Sprache?

Deine Sprache ist etwas, das dir gehört. Und zu dem du gehörst. Sprache ist Heimat. Und wenn ich etwas gut sagen oder erzählen kann, dann erschaffe ich eine Welt. Gleichzeitig erschliesst sich durch Sprache die Welt neu. Einmal sagte mir eine Senterin: «Angelika, seit du unsere Berge beschrieben hast, sehen wir sie anders.» Ich glaube, das war das schönste Kompliment, das ich je bekommen habe.

Jeder kann mit der Sprache ein Fenster öffnen, Blicke öffnen. Als wir vor 17 Jahren hier ankamen, waren wir extrem fremd. Da sind uns Dinge aufgefallen, die den Einheimischen nicht mehr auffallen. Die Besonderheit des Rätoromanischen, die umwerfende Schönheit dieser Landschaft.

Und wie findet man die eigene Sprache?

Grosse Literatur entsteht auch aus Literatur. Wer gut schreiben möchte, sollte lesen. Texte lesen, die ihm gefallen. Vielleicht auch lesen wie ein Dieb. Fragen: Wie macht dieser Autor oder diese Autorin das? Wie findet er Übergänge, wie baut sie Spannung auf? Warum sind diese Figuren so lebendig? Wie entsteht Erotik? Im Versuch der nachahmenden Orientierung entsteht dann schon das Eigene. Und machmal ist es wie beim Kochen: Es braucht Materialkunde, es braucht Erfahrung, oft auch Zeit und Geduld.

Wieso bist du Schriftstellerin, Angelika, und wolltest das schon immer werden? Oder hast du auch eine Schreibwerkstatt besucht?

Ich hatte nicht das Selbstbewusstsein, zu sagen, ich werde Schriftstellerin. Aber ich wollte immer schreiben. So habe ich den Umweg über den Journalismus gemacht. Das war aber nicht nur ein Umweg. Ich schreibe auch heute noch Reportagen und Porträts. Mein Anfang lag in der Tübinger Zeitung «Schwäbisches Tagblatt». Über meine Examensarbeit habe ich Hans Magnus Enzensberger kennengelernt, der mich dann einlud, für das Magazin «TransAtlantik» zu schreiben. So ging es los. Aber erst, als meine Eltern beide gestorben waren, hatte ich den Mut zu einer fiktionalen Stimme.

In der Nacht nach dem Begräbnis meines Vaters habe ich meine erste Erzählung begonnen. Es folgte mein autobiografisch gefärbter Debüt-Roman «Nahe Tage».

In unserem Kurs versuchen wir, Menschen, die schreiben möchten, Mut zu machen. Wenn jemand schreiben will, dann kann er das auch.

Angelika Overath und Manfred Koch geben auch Schreibkurse in Sent.
Angelika Overath und Manfred Koch geben auch Schreibkurse in Sent. © zvg
Abschlusslesung

Die Abschlusslesung des Schreibjahres 2022 findet am 26. März 2023 in der Chasa Misoch in Sent statt. Es lesen 12 Autorinnen und ein Autor. Die Lesung beginnt um 15.00 Uhr und endet um 16.30 Uhr. Danach bietet ein Apéro riche die Gelegenheit für Gespräche zwischen Lesenden und dem Publikum.

Der Eintritt ist frei, es gibt eine Kollekte. Die Veranstaltung steht allen offen.

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