Nicht von ungefähr gilt der Alpensteinbock als König der Alpen. Seine Anpassung an den alpinen Lebensraum ist perfekt, seine Kletterkünste sind legendär und seine stoische Ruhe mitten im Schneesturm bewundernswert. Und trotzdem: Dieses Symbol für Kraft, Ausdauer und Lebenswillen ist um ein Haar vollständig vom Menschen ausgerottet worden. Ohne den mutigen Einsatz von ein paar Naturfreunden und – paradoxerweise – der Jagdleidenschaft der italienischen Könige, würden heute kaum mehr Steinböcke in unseren Bergen leben.
Am Rande der Ausrottung
Bereits im 16. Jahrhundert trugen die aufkommenden Feuerwaffen, ungünstige Witterungsbedingungen und die damit verbundenen Missernten zur intensiven Bejagung des Steinbocks bei. Zusätzlich drang der Mensch immer weiter in die Berggebiete vor. Wälder wurden gerodet, und die Weideareale für die Haustiere engten den Lebensraum des Hochgebirgswildes immer mehr ein. Auch der Aberglaube spielte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Fast jedem Körperteil wurde eine heilende Wirkung zugesprochen. Neben Blut, Knochenmark und Milz wurden die Hörner und die Bezoarkugeln sowie das sogenannte Herzkreuz verwendet. Dieser verhärtete Knorpel der Herzklappen sollte seinen Träger unverwundbar machen. Obwohl die Drei Bünde 1612 ein striktes Jagdverbot für den Steinbock verhängten, war dieser bereits um 1640 in Graubünden ausgerottet. 1809 wurde im Wallis der letzte Schweizer Steinbock erlegt.
Königlicher Schutz, eine Sekunde vor zwölf
Im Gebiet des Gran Paradiso, zwischen dem Aostatal und dem Piemont, überlebten schliesslich die letzten Alpensteinböcke. Vittorio Emanuele II, König von Italien, sorgte höchstpersönlich dafür, dass rigorose Schutzbestimmungen durch Wildhüter durchgesetzt wurden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Bestrebungen, Steinböcke in weiteren Gebieten des Alpenraums wieder anzusiedeln. Da der italienische König keine Bereitschaft zeigte, der Schweiz Tiere für die Zucht zur Verfügung zu stellen, wurden Wilderer angeheuert, die ab 1906 unter Lebensgefahr Steinbockkitze aus dem Gran Paradiso in die Schweiz schmuggelten. Diese wurden vorerst in den Tierpark Peter und Paul in St. Gallen, ab 1915 auch in den Alpenwildpark Harde bei Interlaken gebracht. Bereits im Juni 1909 kamen in St. Gallen die ersten Kitze zur Welt. Diese wurden mit Schoppenflaschen, später mit Bergheu aufgezogen. Zwei Jahre später konnten im Jagdbanngebiet Graue Hörner im Weisstannental die ersten 5 Tiere ausgewildert werden. Da eine der Geissen trächtig war, kam kurz darauf, am 18. Juni 1911 das erste, seit seiner Ausrottung in der Schweiz in Freiheit geborene Steinbockkitz zur Welt. Eine weitere Aussetzung am Piz Ela verlief leider erfolglos.
Steinböcke im jungen Nationalpark
Als Nächstes rückte der neu gegründete Schweizerische Nationalpark (SNP) in den Fokus. Am 19. Juni 1920 trafen sieben Kisten mit Steinböcken mit der RhB in Zernez ein. Von der Blasmusik und einer grossen Menschenmenge wurden sie am Bahnhof empfangen. Am nächsten Morgen ging’s mit dem Pferdefuhrwerk weiter in Richtung Ova Spin und Piz Terza, wo die Steinböcke in die Freiheit entlassen wurden.
Die noch junge Kolonie erlebte bereits nach einem Jahr einen Rückschlag. Zwei Böcke und zwei Geissen zogen in Richtung Livigno: Die Böcke wurden gewildert, die Geissen siedelten sich in der Folge am Piz Albris an. Sie gaben den Anstoss für die Gründung der Kolonie Albris. In den Jahren 1923, 1924 und 1926 erfolgten weitere Aussetzungen. Diesmal transportierte man die Tiere allerdings in die Val Cluozza. Nach Schaffung des Jagdbanngebietes Carolina war der Weg frei, in der Val Tantermozza weitere Steinböcke anzusiedeln. In den Jahren 1933 und 1934 wurden hier insgesamt 19 Tiere freigelassen. Die Tiere in der Val Tantermozza besiedelten Anfang der 1950er-Jahre die Val Trupchun, fanden sie hier doch ideale Lebensbedingungen vor. Von 1920 bis 1934 wurden insgesamt 34 Steinböcke im SNP ausgewildert.
Erfolgreiches Comeback
Die Rettung des Alpensteinbocks ist eine weltweit beispiellose Erfolgsgeschichte. Durch das beherzte Eingreifen einiger Visionäre konnte eine Tierart quasi eine Sekunde vor zwölf vor dem Aussterben bewahrt werden. Heute leben im SNP rund 300 Steinböcke, alpenweit dürften es ca. 40‘000 Tiere sein. Alle stammen sie von der Restpopulation im Jagdgebiet der italienischen Könige am Gran Paradiso ab. Das bedeutet, dass die genetische Vielfalt bei den heutigen Steinböcken gering ist. Wie sich dies in Zukunft auf die Population auswirken wird, ist noch nicht bekannt.