Hat man Müstair mit dem Auto durchquert oder umfahren und bereitet sich seelisch bereits auf den Grenzübertritt vor, erscheint kurz vor dem Zoll zur Rechten eine Tankstelle mit angebautem Haus – so denkt man auf den ersten Blick. Also rasch nochmals den Tank füllen und dann ins Haus zum Bezahlen und vielleicht noch etwas zu trinken und zu knabbern für die nachfolgende Fahrt kaufen.
Und dann folgt das grosse Aha-Erlebnis, weil der «Kiosk» viel grösser ist, als von aussen gedacht und es eben kein Kiosk ist, sondern ein veritables Einkaufszentrum. Im Parterre links der Supermarkt mit grossem Sortiment und breiter Auswahl von Lebensmitteln mit Früchte- und Gemüseabteilung über Schokolade, Kaffee bis hin zu lokalen Produkten wie Käse, Fleisch, Honig und anderem mehr.
Biegt man beim Eingang rechts ab, kommt man ins Bistro, das kleine, einfache Speisen, Kaffee und Kuchen oder einen guten Tropfen Rot- oder Weisswein bietet.
Hinter dem Bistro eine äusserst grosszügig eingerichtete und ausgestaltete Apotheke und Drogerie und ein Kosmetiksalon. Also alles, was das Herz begehrt und dies im südostlichsten Zipfel Graubündens, direkt an der Grenze.
Balcun At als Keimzelle
Wie kommt das? Linard Grond weiss da Bescheid, muss zur Erklärung aber etwas ausholen respektive bei seinem Grossvater beginnen, der 1929 in Müstair zur Welt kam. Der musste den väterlichen Hof übernehmen, obwohl er lieber Unternehmer geworden wäre. Als dann die Demenzerkrankung seines Vaters fortschritt, zog sich Sebastian aus der Landwirtschaft zurück und stieg in den Handel ein. Die Keimzelle seines Geschäftes war der Balcun At im Herzen von Müstair. Er richtete dort einen Laden mit Restaurant ein, bezog die Produkte für den Laden erst von Végé und später von Usego. Verkaufsschlager dabei waren Saccharin, Incarom-Kaffee, Bananen, Tabak, Lindt- und Cailler-Schokolade und die heute noch immer noch bei der Südtiroler Kundschaft beliebten Schaumköpfe. Und die Produkte lassen es erahnen, es waren nicht nur die Einheimischen, die den Laden frequentierten, sondern vor allem die Nachbar*innen aus dem Ausland.
Die Italiener*innen und Südtiroler*innen hätten jeweils Busreisen übers Stilfserjoch organisiert, auf dem Heimweg jeweils einen Stopp beim Balcun At eingelegt und sich grosszügig mit Produkten eingedeckt, die in Italien nicht erhältlich waren. Zu Beginn, so ist auf der Website des Parc Rom zu lesen, hat Sebastian die Sachen direkt den Schmuggler*innen verkauft.
Auf dem Totenbett nahm ihm später die Mutter das Versprechen ab, an der Grenze auf ihrem Land eine Tankstelle samt Kiosk zu errichten – was der geschäftstüchtige Sohn dann tat und damit von Anfang an auf grosse Resonanz auch im Ausland stiess, weil es damals in Italien weit und breit keine Tankstelle gehabt habe. Der umtriebige Sebastian baute das Geschäft fortlaufend aus und formulierte 1975 die Idee, die grösste Drogerie der Schweiz zu eröffnen. Dies war 1977 der Fall, allerdings ist nicht abschliessend geklärt, ob es tatsächlich die schweizweit grösste war. Der Erfolg war ihm auch diesmal hold und die Drogerie florierte, auch dank des damals einzigartigen Angebotes von natürlichen Heilmitteln.
Der grösste Renner ist heute die Kabissalbe von Pater Thomas Häberli. Der Pater, der auch Naturheiler und Pendler war, «entwickelte» diese im Kloster Müstair, und Conrads produzieren nun die Kabissalbe nach der Heiltradition von Pater Thomas Häberli.
Die Familie baute das Center Parc Rom nach und nach aus, bis zur Fertigstellung der grossen Umbauarbeiten im Jahre 2013. Diese erlebte Sebastian nicht mehr, da er kurz vorher verstarb.
Nebst dem Center betreiben die Conrads noch immer das Restaurant Balcun At im Dorf, wo sie unter anderem Nusstorten für den Detailhandel produzieren.
Balcun At und Parc Rom sind nicht mehr aus Müstair wegzudenken und auch zum Treffpunkt der Einheimischen geworden. Auch weil Tankstelle und Bistro täglich von 7.15 bis 19.00 Uhr bedient und geöffnet sind. Nur tanken geht rund um die Uhr. Der Supermarkt ist täglich von 7.30 bis 19.00 Uhr geöffnet, lediglich die Drogerie/Apotheke ist am Sonntag geschlossen. Dem Restaurant im Obergeschoss ist Corona nicht gut bekommen, deswegen ist es momentan geschlossen. Dabei wären die Conrads auch durchaus offen für neue Pächter*innen.
Denn selbstverständlich kann man auch dahingehend abbiegen, wenn man von der italienischen Seite her kommt – dann einfach nach links.