Ich habe einen Fensterplatz

Jürg Wirth Josef Daniel Hohenegger fährt für PostAuto auf der Linie Zernez – Mals, für ihn das Schönste überhaupt. Weshalb das so ist und was es braucht, um ein guter Chauffeur zu sein, erklärt er im Interview.

Freuen Sie sich jeweils auf den Winter?

Ja, ich freue mich auf den Winter, denn der ist immer etwas Schönes. Allerdings mag ich alle Jahreszeiten. Der Winter ist auch deshalb speziell, weil ich auf meiner Route vom Hochwinter auf dem Ofenpass (2149 m ü. M.) hinunter fast in den Frühling nach Mals (1051 m ü. M.) fahren kann.

 

Wie oft müssen Sie da Schneeketten montieren und wie lange brauchen Sie dafür?

Schneeketten montieren ist eine Sache für sich. Jeder Chauffeur und jede Chauffeurin ist auch selber verantwortlich für die sichere Fahrt auf der schneebedeckten Strasse. Ich brauche etwa 20 Minuten zum Montieren der Ketten und habe auch schon im August oder September Ketten montiert, wenn es dann runtergeschneit hat.

 

Bevor Sie sich auf die Fahrt über den schneebedeckten Pass machen, freuen Sie sich da, haben Sie Angst oder brauchen Sie den Nervenkitzel?

Angst habe ich nie, ich bin einfach vorsichtig. Bei mir ist das oft ein Bauchgefühl. Wenn es schneit und die Temperaturen «nicht stimmen», also zu hoch sind, dann ziehe ich Ketten auf, damit habe ich ein besseres Gefühl. Auch im Frühling kann es eher heikel werden, wenn der Schnee weich ist und die Profile am Reifen füllt. Kommt dazu, dass dann das Profil auch schon etwas abgefahren ist. Grundsätzlich ist es einfacher, bei tiefen Temperaturen zu fahren, so ab minus 8 Grad oder noch tiefer, dann halten die Reifen am besten. Aber auf jeden Fall ist es besser, wenn man vorsichtig ist. Denn wenn das Postauto mal rutscht, stoppt man es nicht mehr so leicht.

 

Hatten Sie schon mal einen Unfall?

Wer immer auf der Strasse unterwegs ist, wird auch mit Unfällen konfrontiert, sei es durch eigenes oder fremdes Verschulden. Streifer, Kratzer oder Spiegel abgebrochen, das ist mir auch schon passiert. Zum Glück bin ich bis jetzt von grösseren Unfällen verschont geblieben.

 

Und was hilft besser: Beten oder Schneeketten?

Beten hilft schon auch, aber besser sind Ketten. Ich will es nicht so weit kommen lassen, dass ich beten muss, um heil anzukommen.

 

Stehen Sie unter Zeitdruck während der Fahrt?

Nein. Die Strecke Mals – Zernez misst 52 Kilometer und die Fahrzeit beträgt rund eine Stunde und 35 Minuten. Ab und zu habe ich etwas Verspätung, wenn es unterwegs viele Ampeln hat oder Sta. Maria wieder verstopft ist. Im Winter allerdings habe ich keinen Druck, denn da ist der Nationalpark geschlossen und ich kann diese Haltestellen auslassen. Das spart viel Zeit. 

 

Wie reagieren die Passagiere, sind sie im Winter eher stiller, weil auf die Fahrt konzentriert oder merkt man keinen Unterschied zum Sommer? 

Da gibt es keinen grossen Unterschied. Die meisten sitzen im Bus und machen sich keine Gedanken. Andere haben mehr Interesse und fragen beispielsweise nach dem Zuganschluss in Mals oder sie schauen aus dem Fenster wie ich.

 

Im Bus gab es die Schilder «Nicht mit dem Fahrer sprechen». Halten sich die Leute daran und finden Sie das schade oder reden sie trotzdem?

Bei uns gibt es das nicht mehr, denn, was soll ich sagen, verboten ist es nicht mehr, mit dem Fahrer oder der Fahrerin zu sprechen. Ab und zu muss ich ja auch Auskunft geben. Wenn jetzt jemand die ganze Fahrt ununterbrochen schwatzt, sage ich schon mal, ich müsse mich konzentrieren, er oder sie soll still sein.

 

Aber Sie reden gerne mit den Passagieren?

In dem Beruf muss man die Leute gern haben, sonst ist man am falschen Ort. Es gibt schon auch solche, die die Leute nicht mehr sehen können, aber dann sind sie definitiv am falschen Ort. Wenn jemand die Kühe nicht gern hat, wird er ja auch nicht Bäuer*in. Ich habe auch Freude, wenn die Leute Freude haben und lachen und finde es schön, wenn sie sich am Ziel für die schöne Fahrt bedanken.

 

Wie oft sind Sie den Pass schon gefahren, und bekommt man da eine spezielle Beziehung dazu?

Ich bin seit fünf Jahren auf dieser Strecke unterwegs und fahre sie täglich, wenn ich Dienst habe. Die Strasse kenne ich langsam schon.

 

Wird das auf Dauer auch langweilig oder woher nehmen Sie die Abwechslung?

Nein, langweilig wird es überhaupt nicht. Ich gehe so gerne arbeiten, es ist wunderschön. Jedes Mal herrscht ein anderes Licht und dann der Blick von Süsom Givè aufs Val Müstair, wunderbar. Das ist eine sehr schöne Linie. Zudem habe ich einen Fensterplatz.

 

Gibt es denn Stammgäste? Einheimische oder auch Gäste?

Ja, die gibt es schon, vor allem Pendler*innen oder ältere Leute im Val Müstair, die fahren alle mit dem Postauto. Von Taufers bis Mals hat es am Morgen immer viele Schüler*innen, die füllen direkt zwei Busse. Oft steigen sie vorne bei mir ein und wünschen mir einen guten Morgen. Im Val Müstair hat es viel weniger Kinder, die brauchen nur einen Bus. Diese Entwicklung bereitet mir ehrlich gesagt etwas Sorgen. Denn im Val Müstair gibt es jährlich nur noch drei bis vier Geburten und alleine dieses Jahr sind schon 21 Personen gestorben. 

 

Wie wird man überhaupt Postautochauffeur*in?

Früher mal habe ich die Lastwagenprüfung gemacht, bin aber nie gefahren. Gelernt habe ich Automechaniker und nachher auch noch Schreiner. Danach habe ich dann die Carprüfung gemacht, das hat mich rund CHF 10'000 gekostet.

 

Was sind die wichtigsten Voraussetzungen, um ein guter Chauffeur oder eine gute Chauffeurin zu sein?

Man muss eine Ahnung vom Fahren haben. Man kann nicht so fahren, dass es allen schlecht wird. Wichtig ist ein ruhiger Fahrstil und freundlich zu den Leuten zu sein. Das ist nicht allen gegeben. Einheimische wären eigentlich gesucht, auch weil sie die Strecke kennen und etwas darüber erzählen können, aber es gibt fast keine, die das machen. Auch die unregelmässigen Arbeitszeiten gefallen nicht allen.

 

Welches war die denkwürdigste Fahrt und weshalb?

Davon hatte ich schon einige, vor allem, als ich die Strecke übers Stilfserjoch nach Bormio und Tirano gefahren bin. Ich bin sicher schon 200 Mal übers Stilfserjoch gefahren. Einmal hatte eine Frau Geburtstag und sass ganz allein bei mir im Postauto. Da habe ich kurz angehalten und ihr einen Strauss Alpenrosen gepflückt. Ein andermal standen wir vor geschlossener Schranke am Umbrail, weil sie weiter oben geteert haben. Wir aber wussten nichts davon und mussten die Schranke abschrauben, um durchzufahren. Nach einem starken Gewitter war die Strasse über den Ofenpass geschlossen, aber ich hatte viele Passagiere, die nach Südtirol mussten. So sagte mir die Chefin, ich solle über den Reschen fahren. Als wir dort am Zoll nach Italien standen, war dieser ebenfalls geschlossen. So fuhr ich mit allen Passagieren zurück und die Chefin organisierte für alle eine Übernachtung in Zernez. Ab und zu «steht» respektive fliegt auch der Bartgeier unmittelbar neben mir. Dann sage ich den Leuten jeweils: «Schaut dort, ein Bartgeier!» Darauf schlagen sie jeweils fast die Scheibe ein.

 

Welche Tiere sehen Sie sonst noch?

Die ganze Palette, vor allem im Winter. Da sind einerseits die «normalen» Rehe und Hirsche, dann aber auch Gämsen und den Uhu habe ich auch schon einige Male gesehen. Bei Rafeier sitzt er oft in der Dämmerung auf einem Telefonleitungsmast. Einmal habe ich sogar ein Pärchen gesehen. Bereits drei Mal habe ich auch den Wolf gesehen.

 

Was ist mühsamer zu verladen, Ski oder Elektrobikes?

Die Elektrobikes sind sehr schwer, da fehlt den älteren Leuten dann oft die Kraft, weshalb ich ihnen beim Verladen helfen muss. Auch da gibt es Leute, die dafür dankbar sind und andere weniger. Einmal kam eine Appenzellerin und befahl, ich soll ihr das Velo verladen, worauf ich nach dem Zauberwort fragte. Es dauerte dann eine Weile, bis sie begriff, doch danach war sie wie ein Engelchen. 

 

Welche Linie würden Sie gerne mal fahren?

Weil ich für unseren Betrieb auch Extrafahrten machen darf, komme ich schön herum und fahre viele verschiedene Linien, von daher kann ich das bereits machen. Ab und zu bin ich auch mehrere Tage unterwegs, zum Beispiel auf der Reise mit den Bäuerinnen des Engadins; «alport» ist so was, das gefällt mir sehr. Ich habe tatsächlich einen wunderschönen Beruf.

Josef Daniel Hohenegger geniesst auch im Winter den besten Platz im Postauto.
Josef Daniel Hohenegger geniesst auch im Winter den besten Platz im Postauto. © Andrea Badrutt, Chur
Josef Daniel Hohenegger ist Postautochauffeur mit Leib und Seele.
Josef Daniel Hohenegger ist Postautochauffeur mit Leib und Seele. © zvg

Josef Daniel Hohenegger ist gelernter Automechaniker und Schreiner und seit zehn Jahren Postautochauffeur. Erst fuhr er übers Stilfserjoch, und seit fünf Jahren fährt er die Linie Zernez – Mals.

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