Ich schreibe immer

Jürg Wirth Die Schriftstellerin Leta Semadeni aus Lavin hat den Grand Prix Literatur 2023 gewonnen, die höchste Auszeichnung für literarisches Schaffen in der Schweiz. Im Interview erklärt sie, weshalb solche Preise wichtig sind, wie sie schreibt und warum sie nie weiss, was sie als Nächstes macht.

Sie haben den Grand Prix Literatur 2023 gewonnen. Sind Sie nun die beste Schriftstellerin der Schweiz?

Ganz klar!

Spass beiseite, natürlich nicht! Wird die eigene Arbeit mit einem solchen Preis ausgezeichnet, so weiss man, dass das auch mit vielen glücklichen Zufällen zu tun hat. Aber sicher freue ich mich sehr darüber.

Was bedeutet Ihnen dieser Preis?

Für mich ist das eine Anerkennung, die mir Mut macht und auch Lust gibt, weiter zu schreiben. Das ist vielleicht die wichtigste Bedeutung des Preises. Zudem ist damit ein finanzieller Zustupf verbunden, dank dem ich mir überlegen kann, einmal in Berlin oder New York eine längere Recherche zu machen.

Und wo gehen Sie hin?

Das ist noch nicht festgelegt.

Wie wichtig sind solche Preise?

Auch als Erwachsener braucht man Anerkennung. Die Wertschätzung der eigenen Arbeit ist wichtig.

Meine Art zu schreiben ist sehr zeitintensiv. Ich bin eine langsame Schreiberin und publiziere wenig von dem, was ich schreibe. In einem Buch steckt meistens sehr viel unbezahlte Arbeit. Literaturpreise helfen, diese Lücken zu füllen. Als Schriftsteller*in erhält man, wenn man Glück hat, zehn Prozent vom Verkaufspreis auf jedes verkaufte Exemplar. Also bei einem Buchpreis von ca. 20 Franken sind das zwei Franken pro Buch.

Da gibt es kein Fixum, und die Einnahmen aus dem Verkauf sind Zugabe?

Nein. Vielleicht kommt das bei amerikanischen Bestseller-Autor*innen vor, das weiss ich nicht. Hier bei uns legt der Verlagsvertrag fest, wie viel ich pro verkauftem Buch erhalte.

Und wovon lebt man dann als Schriftsteller*in?

Die meisten meiner Kolleg*innen arbeiten noch in anderen Berufen, weil der Erlös aus den Büchern nicht fürs Leben reicht. Lesungen sind besser bezahlt. Selber kann ich mir den Luxus zu schreiben auch erst leisten, seit ich pensioniert bin.

Selbstverständlich muss ich auf das Preisgeld, das im Kanton Graubünden als «Schenkung» taxiert wird, auch Steuern bezahlen, das ist quasi wie bei einem Lottogewinn.

Wirkt so ein Preis eher motivierend oder hemmend?

In meinem Alter ganz klar motivierend. Hätte ich diesen Preis in jungen Jahren erhalten, so bin ich mir nicht sicher, ob das gut gewesen wäre. Die Erwartungen sind gross. So ein Preis ist auch eine Verpflichtung, die sich hemmend auswirken und die Angst machen kann.

Jetzt aber bin ich alt genug, um zu wissen, was dieser Preis bedeutet und was nicht.

Nämlich?

Es ist eine grosse Anerkennung, die mich mit Freude und mit Dankbarkeit erfüllt, aber, wie schon gesagt: Dass dieses Jahr meine Arbeit ausgezeichnet wird, hat auch mit Zufällen zu tun.

Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? War das ein bewusster Entscheid oder sind Sie da eher reingerutscht?

Schreiben war bei uns schon eine Art «Familienkrankheit». Meine beiden Grossväter haben geschrieben, mein Onkel hat geschrieben und vor allem mein Vater, Jon Semadeni – ich konnte gar nicht anders.

Ich bin mit der Idee aufgewachsen, dass alle Leute schreiben. Dass es normal ist, zu schreiben. Dass das Schreiben etwas ganz Alltägliches ist.

Ich musste relativ alt werden, um zu merken, dass das nicht so ist.

Das heisst, Sie haben schon immer geschrieben?

Ja, eigentlich schon.

Ab wann ist man Schriftsteller*in?

Das muss jeder und jede für sich selber entscheiden, da gibt es keine Regeln. Schriftsteller*in, das ist wie Architekt*in keine geschützte Berufsbezeichnung.

Jeder und jede kann sich so nennen. Nach der Herausgabe des Romans «Tamangur» habe ich mich Schriftstellerin genannt. Eigentlich ist es ein Beruf wie jeder andere auch.

Und was braucht es dazu?

Schreiben ist in erster Linie ein Handwerk. Es braucht Interesse und Leidenschaft für die Sprache. Ohne das Handwerk zu kennen, kann man nicht schreiben. Das Handwerk kann man aber bis zu einem gewissen Grad erlernen. Was es zusätzlich noch braucht, hängt davon ab, in welcher Sparte man schreiben möchte. Für einen Krimi braucht es wahrscheinlich andere Talente als für Gedichte.

Schreiben, das sind für mich persönlich Suchbewegungen in alle möglichen Richtungen. Es sind Versuche, etwas zu verstehen: meinen Alltag, mich selber, die anderen, das Leben.

Wie wichtig ist die Selbstvermarktung, um als Schriftsteller*in erfolgreich zu werden?

Ich weiss nicht, was das ist. Wenn ich eine Einladung für eine Lesung bekomme, dann nehme ich sie gerne an; das gefällt mir, das mache ich gern. Ein eigenes Management habe ich nicht.

Sie schreiben Deutsch und Romanisch, welche Sprache fällt Ihnen leichter?

Im Moment schreibe ich eigentlich nur noch Deutsch. Meine Muttersprache ist Romanisch. Mittlerweile fühle ich mich im Deutschen genauso zu Hause wie im Romanischen, aber manchmal in beiden Sprachen auch ein wenig fremd.

Ich finde es spannend, in einer Sprache zu schreiben, die nicht meine Muttersprache ist. Jedes Wort kann dann eine Entdeckung oder eine Eroberung sein.

Sie lernen noch neue Wörter?

Natürlich! Eine Sprache lernt man, bis man stirbt. Eine Sprache hat man nie ausgelernt. Ich lasse mich gern von Worten, Wörtern, von Sprache inspirieren. Ich lese Zeitung und finde da ab und zu ungewohnte Wörter; zum Beispiel ist mir das Wort «Zeitkapsel» irgendwo aufgefallen. Dieses Wort hat mich getriggert, von diesem gehe ich aus, es animiert mich zum Schreiben. Daraus ist dann ein kurzes Kapitel entstanden, das nun Teil ist von «Amur, grosser Fluss».

Wie oft schreiben Sie und wie lange?

Ich schreibe eigentlich immer und immer völlig ohne Plan. Ich nenne das «Material sammeln».

Etwa so, wie wenn ich ein Haus bauen würde ohne Architekt*in und ohne Geld.

Können Sie das etwas ausführen?

Ich sammle Material, laufe dabei durch die Gegend und finde eine Türe, die niemand braucht oder einen Sack Zement. Dann nehme ich diese Dinge mit.

Wenn ich genug gesammelt habe, breite ich alles Material auf einer Wiese aus und überlege mir, was für ein Haus ich daraus bauen könnte. Vielleicht entsteht so ein schräges, ein eigenartiges Haus; vielleicht eines, das es sonst nicht gibt. Das gesammelte Material bestimmt, welches «Haus» bzw. welche Geschichte daraus entstehen kann. Es bildet eine Art Biotop, wo eventuell ein Pflänzchen wachsen darf, das in geordneteren Verhältnissen keine Chance hätte.

Was bedeutet das fürs Schreiben?

Beim Schreiben sammle ich Notizen aller Art. Manchmal sind es einzelne Wörter oder Wortlisten, manchmal einzelne Sätze – oder auch längere Texte. Nach drei, vier oder fünf Jahren breite ich alle meine Notizbücher aus und überlege mir, was mir diese Notizen mitteilen wollen. Alles, was ich notiere, hat ja mit mir zu tun.

Dann beginne ich, die Notizen zu einer Patchworkdecke zusammenzunähen.

Vor «Tamangur» kamen in meinen Notizen immer wieder ein Mädchen und eine alte Frau vor, deshalb haben die beiden Eingang in den Roman gefunden.

Dieser Prozess ist sehr aufwendig, weil viel Material übrig bleibt, das ich nicht brauchen kann.

Manchmal kann ich die «Überreste» aber später in einem anderen Text oder im nächsten Buch verwenden.

Apropos nächstes Buch, gibt es da schon einen Plan, eine Idee?

Nein, eben weil ich intuitiv arbeite und nicht nach Plan vorgehe.

Wie wichtig ist Heimat in Ihren Texten?

Eigentlich gar nicht wichtig. Bei Tamangur habe ich nicht ans Engadin gedacht. Mir gefiel Tamangur als Name für das Bergdorf, für das Jenseits, das Anderswo, für das Paradies der Jäger – aber mich stört es, dass Tamangur nur aufs Engadin reduziert wird.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass mir nach Lesungen zweimal romanischsprachige Personen gesagt haben, sie hätten die romanische Version von Tamangur gelesen, und diese würde ihnen besser gefallen als die Deutsche. Erstaunlich! Denn eine romanische Version existiert gar nicht. Offenbar ist aber die Energie des Romanischen im Subtext immer noch präsent.

Ich nehme an, der Preis hat viele Reaktionen ausgelöst. Welche hat Sie am meisten gefreut?

Diejenige vom Team des Bistro Staziun in Lavin. Die Reaktionen aus der Umgebung, in der man lebt, sind die wichtigsten, die schönsten.

Natürlich gab es auch ganz viele andere berührende Reaktionen – sogar aus Mexiko und aus New York.

Worauf freuen Sie sich in Zukunft?

Auf jeden neuen Tag und auf meinen 80. Geburtstag im nächsten Jahr.

Freut sich sehr über den Grand Prix Literatur 2023: die Schriftstellerin Leta Semadeni aus Lavin.
Freut sich sehr über den Grand Prix Literatur 2023: die Schriftstellerin Leta Semadeni aus Lavin. © Mayk Wendt

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