«Hauptsache, ich bin gesund und zufrieden», so das Lebensmotto von Alice Lemm. In den früheren, schwierigen Zeiten hat sie oft auch festgestellt, dass es andere Leute gab, die noch weniger hatten als sie. Und wenn hier «frühere Zeiten» steht, so sind sie das tatsächlich. Denn Alice Lemm feierte am 20. November 2020 ihren hundertsten Geburtstag, bei bester Gesundheit und zufrieden wie immer. Sie kann also auf ein langes Leben zurückblicken und viel erzählen.
In der Schule seien sie 36 Kinder gewesen von der 1. bis zur 4. Klasse. Jaquen Walther habe der Lehrer geheissen und gelernt hätten sie, was man heute auch noch so lehre, sprich Rechnen, Schreiben und Lesen. Ihr habe es vor allem das Schreiben angetan, wirft Tochter Sonja ein, die beim Treffen ebenfalls dabei ist. Unlängst habe Alice zur Hochzeit von Dario Cologna mit seiner Laura ein Gedicht verfasst.
Spielen, Tanzen ….
Ein anderer Lehrer hiess Arquint und war aus Lavin, sehr streng sei dieser gewesen. Allerdings auch aushaltbar, denn die Schule dauerte damals nur von Oktober bis April, dazwischen waren Ferien. Respektive genügend Zeit, um den Bauern beim Heuen zu helfen. Jedoch hätten sie nicht nur geheut, sondern viel gespielt. Verstecken beispielsweise, oder ein Spiel, bei dem es darum ging, mit einer kleinen Eisenplatte Knöpfe von einem Spaltstock runterzuschiessen.
Als sie dann älter war, eine «puoba», also nach der Schule, spazierte sie mit den anderen «puobas» und «puobs» am Sonntag von Sta. Maria aus nach Valchava, wo sie gemeinsam sangen und tanzten. Überhaupt waren die Sonntage schöne Tage, denn während des Tages stiegen sie im Sommer auf Berge und gingen im Winter Skifahren. Die Pisten präparierten sie selber respektive fuhren einfach Tiefschnee.
… und Bräuche
Viele verschiedene Bräuche strukturierten das Jahr. Chalandamarz selbstverständlich, allerdings noch ohne die blauen Kutteli und die roten Mützen. Dafür mit Glocken und Gesang und zum Schluss mit einem Glocken-Schell-Wettbewerb zwischen den Reformierten aus Sta. Maria und den Katholiken aus Valchava. Nur einmal hätten die Katholiken gewonnen, erinnert sich Alice Lemm noch. Weil sich einer vom Schmid eine Glocke aus einem Ölfass habe schmieden lassen. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppen beschränkte sich allerdings auf das Wettläuten.
Grosse Freude hatte sie immer am Alpaufzug. Dann trieben sie alle Ziegen zuoberst ins Dorf, molken sie und brachten die Milch in die Käserei, wo sie sie verkästen. Den Käse verkauften sie, und mit dem Erlös machten sie sich einen schönen Abend. Beim Alpabzug, der «Schalpia», hätten sie erst Blumen gesammelt, damit eine Fahne dekoriert und seien dann dem Alpabzug Richtung Umbrail entgegengegangen. Als Erstes seien die Pferde mit Butter und Käse gekommen, dann die schön geschmückten Kühe. Jede sei geschmückt gewesen, die Guten einfach noch ein bisschen schöner.
Kartoffeln, Gerste und Lein
Im Oktober habe es Kartoffeln auflesen geheissen. Entlang der Via Faschas gab es nur Äcker, nicht nur mit Kartoffeln, sondern auch mit Gerste, Roggen und Hafer. Und die Tessanda habe noch Lein für den Eigenbedarf gepflanzt gehabt.
Weihnachten sei auch schön gewesen, zwar praktisch ohne Geschenke, dafür mit gutem Essen und schöner Gemeinschaft zu Hause.
Doch hat sie nicht nur schöne Bräuche und Gemeinschaft erlebt, sondern auch den Zweiten Weltkrieg. Einmal seien etwa 30 Zigeuner über die Grenze gekommen, erinnert sie sich. Ihr Vater, der Kantonspolizist, hat sie in Empfang genommen und eingesperrt. Ihre Mutter hat dann für sie gekocht und der Vater oder die Kinder haben ihnen das Essen gebracht. Ansonsten sei es ruhig gewesen an der Grenze, bis auf die Italiener, welche die Option zwischen dem Deutschen Reich und Italien nicht wahrnehmen wollten, sondern in die Schweiz flohen. Wie alle anderen Frauen, war sie in der Zeit auch in der Feuerwehr, da ja die Männer im Krieg waren. Zwei Kommandantinnen hätten sie gehabt.
Die Spanische Grippe hat sie zwar nicht mehr miterlebt, dafür einen Ausbruch von Scharlach Anfang der 30er-Jahre. Die Schule schloss und die Kinder hatten zu Hause zu bleiben. Weil ihr Bruder es nicht mehr aushielt, sei er auf dem Dach Skifahren gegangen, bis es der Nachbar gesehen habe und der Mutter meldete.
Kurz darauf, immer noch während der Scharlach grassierte, trafen sie sich an einem Sonntag heimlich zum Skifahren. Leider habe sie dann der Lehrer Arquint erwischt, worauf die Mädchen ein Diktat schreiben und die Buben fünf Sonntage in die Schule mussten.
Sie war aber nicht immer nur im Tal, sondern arbeitete als junge Frau in Zürich Altstetten bei einer Familie, das habe ihr sehr gefallen. Auch weil sie dann kein Heimweh mehr hatte, dieses war dafür gross, als sie zu ihrer Tante nach Tamins ins Hotel fuhr. Es war so stark, dass ihr Vater sie ein paar Tage später wieder holen musste. Der Bruder hingegen sei gerne dort gewesen, er habe sich ein kleines Sackgeld verdient mit Kegel aufstellen.
Denn Geld, da erinnert sich Alice Lemm, sei nie im Überfluss vorhanden gewesen. Sowohl während ihrer Kindheit und Jugend als auch in ihrer eigenen Familie. «Aber wir haben immer zu essen gehabt und doch so viel, dass wir durchgekommen sind», erklärt Tochter Sonja. Und anstatt Ferien hätten sie im Winter Sonntagsausflüge mit den Skiern gemacht, auf denen sie die Wildfütterstellen wieder mit Heu füllten, das sie selber mittrugen.
Solange man das Nötigste hat, spielt Geld keine Rolle, resümiert Alice Lemm.