«Gefährlich sind die Abwinde des Helikopters, diese können Geschwindigkeiten von über 180 Kilometer pro Stunde erreichen, deshalb müssen Sie immer mindestens 100 Meter Abstand zu den Masten einhalten.» Alfred Blank, Oberbauleiter des Ausbaus der 380-Kilovolt-Höchstspannungsleitung zwischen Pradella und La Punt, gibt in der Baubaracke in Giarsun Anweisungen für den Besuch der Baustelle. Nebst dem warnenden Ton schwingt aber auch Stolz in seiner Stimme mit. Seit 2007 arbeitet er an diesem, seinem Projekt, und jetzt steht es kurz vor der Vollendung. Lange hat's gedauert, bis es endlich so weit war. Diverse Einsprachen und Vorbehalte musste Swissgrid, die Bauherrschaft, aus dem Weg räumen. Wobei es immer weniger ein Aus-dem-Weg-räumen als ein kooperatives Miteinander aller betroffenen Parteien war.
Im Zentrum der Arbeiten steht einerseits der Abbau der alten Masten, andererseits der Aufbau der neuen. Der Abbau geschieht vorwiegend mit dem Helikopter, der Aufbau mit der Nadel. Teil des kooperativen Lösungsansatzes ist es beispielsweise, dass der Helikopter bestimmte Flugrouten einhalten muss und beispielsweise keine Wildschutzgebiete und auch keine Flächen mit gefährdeten Vogelarten überfliegen darf. Denn nicht nur die Presse könnte unter den Fallwinden leiden, sondern auch die Tierwelt.
Schliesslich ist der Helikopter kein schmalbrüstiges Hupferl, sondern eine veritable Maschine, genannt Schwerlasthubschrauber Kamov KA 32 A11 BC. Maximal 5'000 Kilogramm vermag dieser durch die Luft zu tragen, abhängig allerdings von der Höhe über Meer des Einsatzes und vom Wetter respektive von den Temperaturen. Je höher die Temperaturen, desto geringer das Traggewicht.
An diesem Dienstag im Juni sind die Temperaturen ziemlich ideal, und der Kamov kann tragen, was er verspricht, also die alten Maststücke.
Schrauben lösen
Zuvor aber müssen Arbeiter diese Maststücke auseinanderschrauben. Dazu klettern fünf bis sechs Mastmonteure auf den Masten herum. Sie stammen aus Portugal, Italien, Österreich, der Schweiz, Polen, oder auch aus Mexiko und Brasilien, erklärt Joshu Jullier, Verantwortlicher für die Kommunikation im Projekt von Swissgrid. Oft werden die Monteure im eigenen Dorf rekrutiert oder sind Verwandte. Schwindelfreiheit ist dabei absolute Voraussetzung, schliesslich sind die Masten 50 bis 80 Meter hoch. Um auf die Masten zu klettern, sind in einer Ecke Eisensprossen angebracht. Um auch auf die anderen zu kommen, haben sich die Arbeiter spezielle Steigeisen an die Schuhe geklemmt – und dann geht’s los. Zu viert, einer in jeder Ecke, klettern sie nach oben. Zuerst befestigen sie zuoberst an jeder Ecke ein Seil, dessen vier Stränge in der Mitte verbunden sind. Dann beginnen sie weiter unten die Sechskantschrauben zu lösen, welche die verschiedenen Mastteile zusammenhalten. Dabei prüfen sie anfangs lediglich, ob sich diese überhaupt lösen lassen. Erstaunlicherweise tun sie das relativ leicht. Das erstaunt doch insofern, als die Masten seit den 60er-Jahren stehen und so manch eine Schraube im privaten Haushalt schwer zu lösen ist. Wenn sie wissen, dass sich die Schrauben lösen lassen, warten sie, bis der Kamov kommt. Dieser schwebt über dem Mast und lässt langsam sein Tragseil runter, bis es dasjenige in der Mitte der Masten «ergriffen» hat. Ab dann muss es schnell gehen. Die Arbeiter, selbstverständlich gesichert, lösen die Schrauben und schlagen sie mit gezielten Schlägen aus den Löchern. Noch von unten und 100 Meter vom Mast entfernt, sieht man, wie die massiven Schrauben aus den Löchern herausgeschlagen werden. Sind alle Schrauben entfernt, steigt der Hubschrauber auf, zieht das Maststück hoch und fliegt damit zum nächstgelegenen «Mastenfriedhof», wie Jullier die Lagerplätze nennt. Diese sind über das ganze Tal verteilt. Dort demontieren Arbeiter die Eisenteile und führen sie der Wiederaufbereitung zu. In einem halben Tag ist ein Mast abgebaut, insgesamt gilt es 125 Masten zu bearbeiten: 93 werden ersetzt, 32 verstärkt und zwei zusätzlich aufgebaut.
Leitungen ein- oder aufziehen
Die Leitungen bleiben bei diesen Arbeiten an den Masten, lediglich der Strom wird ausgeschaltet. Um die Leiterseile dann in den neuen Masten einzuhängen, werden sie hochgezogen. Insgesamt 615 Kilometer neue Leiterseile braucht es für die Erweiterung. Müssen Seile ganz neu eingezogen werden, passiert dies erst mit einem Nylonseil, das ein Stahlseil nach sich zieht, bis schliesslich die beiden Leiterseile kommen.
Um die neuen Masten aufzubauen, verzichtet Swissgrid, wo möglich, auf den Helikopter und setzt stattdessen die «Nadel» oder einen Autokran ein. Die Nadel ist ein verstrebter Mast aus drei Alurohren, wie er auch beispielsweise in Zirkuszelten eingesetzt wird. Dieser Mast transportiert die einzelnen Maststücke in die Höhe, wo sie dann von den Arbeitern zusammengesetzt werden. Die erneuerten Masten bestehen aus 5'005 Tonnen Stahl und erreichen, aufeinandergestellt, eine Höhe von 6'300 Metern, 250'000 Schrauben halten sie zusammen, und der grüne Schutzanstrich für alle Masten erstreckt sich über eine Fläche von 100'000 Quadratmetern. Denn ja, die Masten werden auch gestrichen. Allerdings erst ein Jahr nach dem Aufbau, damit die Grundierung bis dahin noch etwas leben und atmen kann. Auch zum Malen klettern wieder Arbeiter auf die Masten und haben so nebst denjenigen, die am Eiffelturm beschäftigt sind, einen der höchsten und luftigsten Arbeitsplätze in der Malerbranche. Mit Demontage, Montage und Schutzanstrich sind rund 230 Arbeiter beschäftigt.
Und wenn alles nach Plan läuft, geht die neue Leitung Ende 2022 in Betrieb.