Mit dem Chalandamarz in Scuol war es in etwa so wie mit Halloween in der Schweiz. Erst wollte das kaum jemand, mittlerweile machen fast alle mit. Wobei in Scuol eigentlich alle dabei sind, zumindest alle Schülerinnen und Schüler. Dies aber auch weil sie müssten, wie Richard Marugg, Hobbyhistoriker aus Scuol, festgestellt hat. Dass sie eben müssten, merke man vor allem beim Singen, denn dort klinge es nicht immer nur nach Freude und Leidenschaft, sondern eben eher etwas nach Müssen.
Gut möglich, dass das zu Beginn des Chalandamarz' in Scuol gar nicht viel anders war, denn damals waren gar nicht alle Leute restlos von diesem Brauch überzeugt. Es war dann auch noch kein Brauch, sondern wurde erst zu einem. Eingeführt habe diesen Jon Famos, der zuvor in S-chanf Lehrer war, wo sie bereits Chalandamarz feierten. Sekundiert bei der Einführung des Chalandamarz haben ihm zwei Lehrerinnen, die zuvor in Bever und Silvaplana unterrichtet hatten und dann ebenfalls nach Scuol kamen. 1933/34 habe zum ersten Mal ein Chalandamarz in Scuol stattgefunden, weiss Richard Marugg, auch wenn er damals noch nicht dabei war. Marugg stieg erst Ende 40er-Jahre ins Geschehen respektive den Chalandamarz ein. Um die 300 Kinder hätten damals mitgewirkt, und der Brauch sei dann schon ein Brauch gewesen und gut bei der Bevölkerung verankert. Mitmachen durften damals nur die Knaben, diese zogen singend und Glocken schellend durchs Dorf. Auch das Peitschenknallen durfte nicht fehlen. Die Mädchen hätten nur unterstützend mitmachen dürfen, wenn der Gesang der Knaben zu dünn oder zu wenig schön geklungen habe. Auch das Peitschenknallen habe es damals schon gegeben. Getragen hätten sie einfach Bauernkittel und seien am Vormittag durch Scuol gezogen, um an den Plätzen anzuhalten und zu singen. Die Kinder trafen sich morgens um 7 Uhr beim Schulhaus und teilten sich in zwei Gruppen auf, die in jeweils verschiedene Richtungen loszogen und in den Häusern und auf den Plätzen sangen. Dabei waren die Ältesten die Anführer, die Buben aus der 7. Klasse zogen den Wagen, und die Achtklässler kassierten das Geld ein. Im Altersheim habe man sich getroffen und Marend genommen, danach sei es weitergegangen zum Spital und schliesslich wieder durchs Dorf bis zum Schulhaus, wo es Mittagessen gegeben habe.
Schöner Ball
Besonders gerne erinnert sich Marugg an den Ball, der dann am Abend über die Bühne ging. Damals noch im Hotel Central, wo heute die Bauabteilung der Gemeinde Scuol sei. Zu essen gegeben habe es Würste und Kartoffelstock und dazu Musik einer Kapelle, bestehend aus Geige, Bassgeige, Klarinette und Handorgel. Getanzt hätten sie, er allerdings noch nicht mit seiner Frau, die habe er zwar in der Schule kennengelernt, also nicht direkt am Chalandamarz. Das habe gehalten bis zu ihrem Tod vor sieben Jahren, freut sich Marugg.
Handfeste Sache im Val Müstair
Auch im Val Müstair feierten sie und feiern sie noch heute Chalandamarz. Früher ging’s da ziemlich rustikal zu und her, wie Oswald Toutsch erzählt. Dabei spielte nicht nur die Glockengrösse eine Rolle, sondern auch die rohe Kraft. Überhaupt war das mit den grossen Glocken früher kaum ein Thema, denn es gab fast keine. Die meisten Buben, ob nun in Scuol, Val Müstair oder sonstwo, hatten ihre Glocken vom heimischen Bauernhof, und die waren eher klein. Im Val Müstair, also genauer in Tschierv und Fuldera, zogen ebenfalls die Knaben am Morgen singend und schellend durchs Dorf. Danach machten sie sich auf nach Lü, wo sie ihr Marend nahmen. Das grösste Highlight am ganzen Tag war dann, wenn sich die Knaben aus den beiden Dörfern unterwegs begegneten, dann gab es nämlich eine Schlägerei, wie Toutsch zu erzählen weiss. Mit roher Kraft und Gewalt sei ausgemacht worden, welches Dorf denn das stärkere sei. Zumindest sei dies in den 40er-Jahren so gewesen. Trotzdem hatten die Jungen dann am Abend noch die Musse für den Ball, selbstverständlich im jeweils eigenen Dorf, ohne dass jemand von den anderen Dörfern dazugestossen wäre.
Am Chalandamarz wurden auch von den Knaben immer lange Gedichte rezitiert, die auf die Geschehnisse des vergangenen Jahres anspielten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in den Haushaltungen kein Fernsehen, nur wenige Radios, und fast keine Telefone. So wurde den Gedichten mit den Neuigkeiten immer sehr aufmerksam gelauscht.
Essen und schellen in Lavin
Seit wann der Chalandamarz in Lavin existiert, weiss Rosa Steiner nicht. Das älteste Bild aus ihrer Sammlung datiert von 1910. Sicher weiss die rüstige und vife 92-jährige Frau, dass die Mädchen ganz lange nicht mitmachen durften. Erst Ende der 60er-, anfangs der 70er-Jahre waren die Mädchen endlich willkommen, auch weil es da zu wenig Buben hatte und man froh war um ihre Unterstützung. Es war aber nicht so, dass die Mädchen dann einfach zu Hause geblieben wären. «Wir sind hinter dem Bubenzug hergelaufen, haben sie etwas geärgert und versucht, die Säcke mit den Esswaren zu stehlen», sagt sie fast ein wenig trotzig.
Damals wie heute waren und sind die Kinder Lavins am Chalandamarz den ganzen Tag unterwegs. Es begann und beginnt um 8.00 Uhr auf der Plazza Gronda mit einigen Runden um den Brunnen und von dort ging's und geht’s durchs ganze Dorf, zu jedem Haus respektive hinein, um dort zu singen. Selbstverständlich wurde das Singen dann auch belohnt – mit Esswaren respektive Lebensmitteln. Zum Beispiel mit Mehl, Eiern, geräuchertem Fleisch und Kastanien – Chastognas. Diese sammelten die grossen Burschen in weissen Säcken und brachten alles der «Mama da Chalandamarz». Das ist die Mutter des ältesten Kindes am Chalandamarz. Ihr oblag die Ehre, für alle Chalandamarzkinder sechs Mittagessen zuzubereiten. Allerdings durften auch dort nur die Buben hingehen, die Mädchen nicht. Die Kinder, welche noch nicht in der Schule waren, schellten dann bei Schulschluss am Mittag die Grossen raus, um sie aufs Essen aufmerksam zu machen. In Anbetracht der früher kinderreichen Familien dürften diese Mahlzeiten den einen oder anderen Haushalt willkommen entlastet haben, vermutet Rosa Steiner. Auch heute gibt’s diese Essen noch, allerdings am Abend, und nur noch fünf an der Zahl. Dieser Brauch hat es sogar ins Lied «Oh che gust oh che bel spass» gebracht. Dort werden die Speisen erwähnt und auch die Tatsache, dass alles gratis war. Das Geschirr allerdings mussten die Kinder selber mitbringen. Wohl gibt es diese Essen noch, das mit dem Lebensmittel einsammeln wurde dann aber gegen das Sammeln von Geld eingetauscht. Auch weil immer dieselben Esswaren gesammelt worden seien, sagt Rosa Steiner.
Und ja, Lavin gibt sich nicht mit einem Umzug zufrieden, sondern hat deren zwei. Immer am darauffolgenden Sonntag gibt und gab es quasi eine Light-Variante des Umzuges, mit Singen nur auf einigen Plätzen und anstatt Plumpas und Schellen mit Brunzinas. Nach dem zweiten Umzug fand dann jeweils der Cuvits statt. Dabei wurden die Mitglieder des Gemeinderates vereidigt. Dies gibt es heutzutage nicht mehr, ansonsten aber hat sich auch der Chalandamarz in Lavin nicht sonderlich verändert.