Man muss sich selber sein

Jürg Wirth Noch bis Ende August ist Aita Zanetti aus Sent höchste Bündnerin. Wie das ist, was sie tatsächlich bestimmen kann und was es braucht in der Politik sagt sie in diesem Interview.

Wie ist es, höchste Bündnerin zu sein?

Das ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber selbstverständlich ist es eine schöne Aufgabe und eine grosse Ehre. Doch fühle ich mich nicht als höchste Bündnerin, ich darf einfach den Grossen Rat repräsentieren.

Was kann man als höchste Bündnerin bestimmen?

Den Stichentscheid bei Abstimmungen im Grossen Rat. Das ist tatsächlich das einzige. Allerdings musste ich das noch nie machen, und ich habe es während meiner Zeit im Grossen Rat auch noch nie erlebt, dass es einen Stichentscheid gegeben hätte.

Möchten Sie denn mal einen Stichentscheid fällen?

Nein, eigentlich nicht. Jetzt nicht wegen des Stichentscheides, sondern wenn es zu einem Stichentscheid kommen sollte, war das Geschäft noch nicht ganz reif zur Abstimmung, sonst hätte es kaum eine so knappe Entscheidung gegeben.

Wie wird man höchste Bündnerin?

Indem man von der Fraktion vorgeschlagen wird. Denn die Parteien wechseln sich im Turnus ab, die Standespräsidentin oder den Standespräsidenten zu stellen.

Dann gab es eine interne Ausmarchung?

Ja, die gab es.

Mit Bewerbungsgesprächen?

Ja, tatsächlich musste ich mich den Kolleginnen und Kollegen präsentieren und meine Beweggründe für die Kandidatur zu diesem Amt darlegen, danach gab es ein Ausscheidungsverfahren.

Wie beim Eurovision Song Contest?

Ja, so ähnlich, allerdings mussten wir nicht singen und es gab nicht zwölf Punkte.

Nur Sie blieben übrig?

Ich erhielt die meisten Stimmen, und es war schon speziell, wenn man am Schluss das Vertrauen erhält.

Wie viele Kandidaten gab es denn für dieses Amt in Ihrer Partei?

Das sage ich nicht.

Eine Handvoll?

…….

Und haben Sie es immer noch gut mit den anderen Kandidaten?

Ja, durchaus. Ich glaube, sie haben weniger Mühe damit, dass ich das Rennen gemacht habe, als ich. Ich dachte manchmal, dass ich denen eine Chance weggenommen habe.

Waren es denn nur Männer?

Mehr Details zur internen Ausmarchung möchte ich nicht machen. Aber vielleicht so viel: Ich wusste nicht, wer sich bewirbt. Ich habe in meiner Partei auch mit niemandem über meine Kandidatur gesprochen. Je nachdem, wer sich beworben hätte, hätte ich sonst noch auf meine Kandidatur verzichtet.

Das ist durchaus eine steile Karriere, schliesslich sind Sie erst seit 2018 im Grossen Rat.

Mit meiner Kandidatur wollte ich auch aufzeigen, dass man bekannte Wege auch einmal verlassen kann. Und ich hatte selbstverständlich grosse Freude, dass ich schon nach so kurzer Zeit zur Standespräsidentin gewählt worden bin.

Wieso der Einstieg in die Politik?

Wegen des Küchentisches bei uns zu Hause. Am Küchentisch wurde über den Tag berichtet, und meine älteren Schwestern erklärten mir auch, wie eine Demokratie funktioniert. Also lancierte ich eine Abstimmung darüber, ob unser Vater das Geschirr abwaschen sollte und kassierte prompt meine erste politische Niederlage.

Später war ich immer engagiert und auch schon im Gemeindevorstand von Sent zuständig für Wald, Weide und Bauernwesen. Und ich stand der Fusion kritisch gegenüber.

Zu Recht?

Kritische Stimmen sind nicht immer angenehm, aber wichtig.

So richtig politisiert wurde ich aber durch den Schliessungsentscheid des Hochalpinen Instituts Ftan. Dagegen habe auch ich mich engagiert, mit Unterschriften sammeln und so weiter.

Und dann?

Dann habe ich die Chance ergriffen, die sich mir geboten hat, weil der Kreis Suot Tasna plötzlich einen Sitz mehr im Grossen Rat zur Verfügung gehabt hat. Also zuerst habe ich hin- und herüberlegt, ob ich kandidieren soll, aber mein Mann hat gesagt, entweder machst du es oder du lässt es sein. Ohne seine und die Unterstützung der Kinder hätte ich es nicht gewagt.

Und findet er Ihr politisches Engagement gut?

Ohne seine tatkräftige Unterstützung im Hintergrund ginge es nicht, alleine ist eine solche Aufgabe nicht zu stemmen, weder von Frauen noch Männern.

Schliesslich bin ich dann mit einem guten Resultat gewählt worden. Das bedeutete für mich auch, dass ich für dieses Resultat quasi Verantwortung trage, weshalb ich mich auch für den Gemeindevorstand bewarb und ebenfalls gewählt wurde.

Welche Voraussetzungen sind wichtig, um Politik zu machen?

Man muss sich selber sein.

Ellbogen braucht es keine?

Ich jedenfalls kann das nicht.

Aber das merkt man schon, auch in Chur?

Das kann es schon geben, aber ich möchte das nicht werten, alle sind so, wie sie sind.

Ellbögeln liegt mir tatsächlich nicht, jedoch melde ich meine Ambitionen durchaus an. Ich will nicht immer warten, bis mich jemand fragt. Allerdings habe ich auch schon die Erfahrung gemacht, dass es andere unangenehm finden, wenn ich meine Ansprüche anmelde.

Wie steht es denn mit der Liebe zur Macht?

Die Frage ist, ob man Macht nimmt oder ob sie einem gegeben wird. Für mich bedeutet das primär Verantwortung, ob das auch Macht ist, ist schwierig zu sagen. Wenn ich allerdings mit meinen Tätigkeiten etwas bewirken kann, dann ist Macht durchaus positiv besetzt.

Wieso sollte man Politik machen?

Politik muss man vielleicht nicht unbedingt machen. Ich wünschte mir aber, dass sich die Menschen wieder mehr an Tische setzen und auf Augenhöhe diskutieren, ohne dass man dabei den anderen immer seine eigene Meinung aufdrücken will. Für mich ist der Tisch mit den diskutierenden Leuten die Ausgangssituation für die Politik.

Was ist wichtig, wenn man Politik macht?

Wenn man sich für die Allgemeinheit engagiert, ist das eine wunderbare Lebensschule. Man lernt dabei Leute kennen, die man sonst nie getroffen hätte. Man sieht auch Dinge, die man sonst nie gesehen hätte.

Was lehrt einen die Politik?

Dass man mitgestalten kann, wenn man politisches Engagement zeigt. Sonst überlässt man das Gestalten den anderen. Schliesslich sind wir für unser Handeln verantwortlich, aber auch für das, was wir nicht machen, obwohl wir vielleicht könnten. Anstatt nur über andere zu schimpfen, sollte ich besser überlegen, was ich machen könnte.

Haben Sie politische Vorbilder?

Nicht unbedingt, aber es gibt Leute und Persönlichkeiten, die mich inspirieren, allerdings möchte ich da keine Namen nennen.

Sie sitzen nicht nur im Grossrat, sondern auch im Gemeinderat von Scuol. Welche Arbeit ist anspruchsvoller?

Beide Ämter sind anspruchsvoll, auch wenn das komplett unterschiedliche Tätigkeiten sind. Der Grossrat ist die Legislative und der Gemeinderat die Exekutive. Als Gemeinderätin in Scuol bin ich näher bei den Leuten mit den Entscheiden, die wir fällen. Wenn wir im Grossrat ein Gesetz verabschieden, bemerkt man die Auswirkungen nicht unmittelbar. In der Gemeinde sind die Auswirkungen unserer Beschlüsse meistens unmittelbar. Deshalb ist die Arbeit im Gemeinderat sehr anspruchsvoll und sollte nicht unterschätzt werden.

Sind Sie auch Anfeindungen ausgesetzt?

Bis jetzt zum Glück nicht, nein. Ich versuche auch immer, den Dialog zu suchen und den Menschen, die ein Anliegen haben, zuzuhören.

Wie ergänzen sich die beiden Ämter?

Es entstehen daraus Synergien, die man durchaus nutzen kann. So entscheiden wir im Grossen Rat oft über Gesetze, welche nachher die Gemeinden umsetzen müssen. Deshalb ist es wichtig, dass ich im Grossen Rat auch die Sicht der Gemeinden einbringen kann. Gemeinsam mit Politikern und Politikerinnen aus anderen Regionen setze ich mich dafür ein, dass der Spielraum der Gemeinden nicht immer stärker eingeschränkt wird.

Wie ist denn eigentlich die politische Kultur im Grossen Rat?

Die ist sehr gut. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Entscheide, wie bereits erwähnt, keine Unmittelbarkeit haben. Zudem tut auch die räumliche Distanz zwischen den Mitgliedern des Grossen Rates gut. Ich finde, wir haben eine sehr gute Art, miteinander umzugehen.

Werden Sie auf der Strasse angesprochen, und wenn, eher wegen Grossem Rat oder wegen Gemeinderat?

Eigentlich nicht oft. An und für sich wäre ich froh, wenn ich mehr angesprochen würde, denn ich bin durchaus offen für Anregungen oder auch Kritik. Allerdings glaube ich, dass die sozialen Kontakte seit Corona etwas gelitten haben und ich auch deshalb weniger angesprochen werde.

Können Sie von der Politik abschalten, und wenn ja, wie?

Das kann ich nicht gut, was sicher eine meiner Schwächen ist. Ich bin wie eine Kuh, immer am Wiederkäuen der Probleme. Das macht es nicht nur einfach. Ich hinterfrage mich auch oft oder Entscheide, die wir beispielsweise im Gemeinderat gefällt haben. Gerade weil die eine so unmittelbare Auswirkung haben. Am besten beim Abschalten helfen mir Spaziergänge oder im Sommer das Heuen.

Was würden Sie als höchste Bündnerin bestimmen, wenn Sie könnten?

Wenn ich das könnte, hätte ich Macht, die mir nicht zusteht, und das entspräche nicht meinem Naturell.

Was ich mir aber wünschte, sind etwas leisere Töne bei der Medienberichterstattung aus dem Grossen Rat. So war am Schluss der letzten Session eigentlich nur über diese unsägliche Diskussion mit den Corona-Leugnern zu lesen, und das war schade.

Der Parlamentsbetrieb, wie er jetzt ist, ist gut, da braucht man nichts zu ändern. Mittlerweile habe ich mich auch an die langen Debatten gewöhnt und finde, dass die Platz haben müssen.

Aita Zanetti aus Sent ist höchste Bündnerin und Gemeinderätin in Scuol.
Aita Zanetti aus Sent ist höchste Bündnerin und Gemeinderätin in Scuol.

Aita Zanetti ist in Sent aufgewachsen und betreibt mit ihrem Mann Jachen einen Bauernhof in Sent. Gemeinsam haben sie vier Kinder im Alter von 13 bis 21 Jahren.

Aita Zanetti sitzt seit 2018 im Grossen Rat von Graubünden, erst für die BDP, nun für die Mitte. Sie ist noch bis Ende August Standespräsidentin, also höchste Bündnerin. Ebenso ist Zanetti Mitglied im Gemeindevorstand der Gemeinde Scuol und Co-Präsidentin der Mitte Graubünden.

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