Wie fest haben Sie den Bergen geholfen?
Nicht unerheblich, würde ich sagen. Ich arbeite seit 15 Jahren ehrenamtlich, das heisst, ohne Lohn als Experte für die Schweizer Berghilfe. Sechs bis acht Wochen im Jahr, weshalb die Experten alles ältere Leute sind. Mein Gebiet ist das Engadin und die Bündner Südtäler, von Samnaun bis Grono. Pro Jahr habe ich 30 bis 40 Projekte beurteilt, welche die Berghilfe mit zwischen 1,5 und 2 Millionen Franken unterstützt hat. Natürlich lehnte ich auch Gesuche ab, zum Beispiel, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin über genügend eigene Finanzmittel verfügt. Selten wurde die zugesagte Unterstützung nicht ausbezahlt, weil das Projekt nicht realisiert wurde. Gesamthaft waren es im Unterengadin über 60 Projekte, im Val Müstair etwa 35.
Sind Sie stolz, wenn sie durchs Engadin fahren und Ihre Projekte sehen?
Ja, durchaus, denn der Arbeitsaufwand für die Experten ist gross. In den letzten drei Monaten gab es zudem noch über zehn Corona-Fälle zu beurteilen, wofür die Berghilfe gesamtschweizerisch mit zusätzlich 5 Millionen Franken helfen wird. Wenn ich mit meiner Frau durchs Engadin fahre, weise ich gerne auf die Projekte hin: «Diesen Stall, jene Werkstatt, dieses Museum, jenes Hotel, diesen Schlachthof, jenes Tiertherapiezentrum, diesen Gewerbebetrieb. Viele kenne ich, und ihre Familiengeschichte auch.» Es erfüllt mich mit Befriedigung, etwas gemacht und zum Gelingen bei getragen zu haben. Das ist mehr Wert als nur das Geld, das gesprochen wurde.
Sie haben 15 Jahre lang Projekte beurteilt, wie haben sich diese verändert?
Die Berghilfe wurde vor 75 Jahren zur Unterstützung der Berglandwirtschaft gegründet. Das war auch zu Beginn meiner Tätigkeit mehrheitlich noch so. Ziel war es, den Bauernfamilien ein besseres Leben zu bieten und sie dazu beim Bau von Ställen oder Häusern finanziell zu unterstützen. Die Berghilfe unterstützt übrigens bei Investitionen, Betriebskosten nur in echten Notlagen. Die Umstände änderten sich freilich bald, und die Berghilfe passte ihre Ziele an: Heute geht es allgemeiner darum, die Lebensqualität in den Berggebieten zu verbessern, den Leuten eine Perspektive zu bieten, um sie vom Abwandern abzuhalten, oder, was gelegentlich vorkommt, wieder zurückzuholen. Was nützt es einen neuen Stall zu bauen, wenn es im Dorf keinen Laden oder kein Beizli mehr gibt? Mittlerweile machen Projekte aus der Landwirtschaft nur noch etwa zwei Drittel aus. Strategische Schwerpunkte wie Tourismus, Digitalisierung, Ausbildung, Gesundheit, Kultur, Gewerbe sind dazugekommen. So unterstützten wir in den letzten Jahren beispielsweise allein in der «Allegra-Region» sieben Hotels. Das grösste Projekt aller Zeiten steht übrigens im Val Müstair: das Center da sandà.
Und die Hoteliers wissen das?
Ja sicher, und die kantonalen Stellen und die spezialisierten Kreditinstitute auch. Obwohl wir keine staatlichen Vorgaben erfüllen müssen, sind wir streng mit den Prüfungen und wenden ähnliche Kriterien an wie die Banken. Als Treuhänder von vielen Tausend anonymen Spendern muss ich mich immer fragen: «Würde er oder sie dieses Projekt wohl unterstützen?» Die Geldinstitute fragen denn auch oft, bevor sie definitiv Kredite vergeben, ob ich das Projekt schon beurteilt habe. Nach 15 Jahren kennt man sich persönlich.
Übrigens müssen alle anderen typischen Geldquellen wie Subventionen, staatliche Kredite und Hypotheken ausgeschöpft sein, bevor wir einen Beitrag bewilligen. Und immer braucht es auch einen angemessenen Beitrag des Antragstellers selbst.
Wie sieht es aus mit dem Gewerbe oder mit dem Kultursektor?
Auch dort unterstützen wir zahlreiche Projekte, gerade im Unterengadin. Zuletzt gerade das Projekt Pro aua minerala in Scuol – eine Synthese von Kultur und Kommerz. Es geht auch hier, wie gesagt, nur um Investitionen und nicht um Betriebskosten. Das heisst, für ein einzelnes Konzert oder eine Kinovorführung gibt es kein Geld, für die bauliche und technische Infrastruktur aber schon.
Wenn Sie die Berghilfe in einem Satz beschreiben müssten, wie würde der lauten?
Die Berghilfe will die Lebensqualität in den Bergen steigern. Dabei achtet sie darauf, dass sie keine 08/15-Projekte unterstützt, sondern innovative Projekte. Es geht immer darum. etwas Neues, etwas Originelles zu finden. Der Zweite mit derselben Idee in der näheren Umgebung erhält oft nichts mehr. Wir wollen kein Giesskannenvorgehen. Das überlassen wir dem Staat.
Und wie finanziert sich die Berghilfe?
Wir finanzieren uns ausschliesslich über Spenden. Wir erhalten jährlich über 30 Millionen Franken, davon sind fast die Hälfte Erbschaften und Legate. Die Leute wissen offensichtlich, dass wir alle Anträge seriös prüfen und Sorge zu uns anvertrautem Geld tragen. Ab und an entsteht der Eindruck, dass die Berghilfe lieber grosse Projekte ab 100 000 Fr. unterstützt, als kleinere. Ich weiss nicht, woher Sie diesen Eindruck bekommen haben. Das stimmt nicht. Die vielen kleineren Projekte sind einfach weniger sichtbar. Zudem sind Beiträge an Privatpersonen grundsätzlich vertraulich, weshalb ich auch keine Namen nenne. Die Projekte sind quasi getrieben von den Antragstellern. Sie kommen zu uns, nicht umgekehrt. Und gerade bei den Ställen ist es so, dass diese auch aus Tierschutzgründen immer grösser werden und also auch teurer. Die Berghilfe schaut übrigens jedes Projekt vor Ort an. Wir wollen die Leute kennen.
Haben Sie ein Lieblingsprojekt?
Meine Lieblingsprojekte sind solche, welche längerfristig stabile Arbeitsplätze generieren. Eine gute Geschäftsidee, ein nachvollziehbarer Businessplan geben die besten Voraussetzungen. Das gilt auch für kulturelle Projekte. Niemand will Geld verlieren, vor allem keine Spendengelder. Dennoch ist der Berghilfe bewusst, dass es bei der zunehmenden Zahl von Projekten ausserhalb der Landwirtschaft auch gelegentlich Misserfolge geben wird. Wir wollen Hilfe zur Selbsthilfe leisten, eine Dynamik schaffen. Auch in der Landwirtschaft gibt es solche Projekte. Nur dann müssen die Menschen nicht abwandern und sehen eine attraktive Zukunft auf dem Land. Dynamik und Risiko gefallen mir sowieso besser, weil ich von meinem beruflichen Werdegang her Unternehmer bin. Gerade bei unternehmerischen Anträgen lasse ich es mir nicht nehmen, auch einmal Anregungen zum Standort, zum Businessplan oder sogar zur Qualifikation der involvierten Personen zu machen. Ein Projekt wie jenes vor eineinhalb Jahren mit einem Paket von Kursen für alle Betriebe im Val Müstair – es wurde auf meinen Wunsch von der Tessanda auf die Biosfera und die Uniun da Masteranza e Gastro als Träger ausgeweitet – gefällt mir deshalb besonders. Früher gab es auch mehr Zukunftskonferenzen. Bun Tschlin ist z. B. daraus entstanden.
Wie steigert man die Chancen für eine positive Beurteilung?
Da die Berghilfe die letzte in der Finanzierungskette ist, müssen die Antragsteller zwingend Eigenkapital vorweisen können, ohne das geht gar nichts. Wenn die Finanzierung nicht gesichert ist, sprechen wir kein Geld, und wir prüfen die Anträge genauso detailliert wie die Banken.
Sind auch noch andere Stiftungen etc. Konkurrenz?
Von Konkurrenz würde ich nicht reden. Es gibt zum Beispiel die Patenschaft für Berggebiete von Coop, welche in einem ähnlichen Feld tätig ist, jedoch ziemlich anders finanziert wird. Oder die Patenschaft für Berggemeinden, welche vor allem Projekte der öffentlichen Hand unterstützt.
Wie hat sich das Berggebiet während Ihrer Zeit entwickelt?
Die Unterschiede zwischen dem Berggebiet und dem Unterland werden immer kleiner, die Verkehrsverbindungen immer besser. Eine grosse Chance. Die Menschen in den Bergen haben die gleichen Ansprüche, haben alle ein Smartphone, das gleiche Internet, die gleiche Information wie im Unterland. Was mir aber auffällt, ist, dass die Eigenverantwortung im Berggebiet noch stärker ausgeprägt ist. Dafür dürfte die unternehmerische Initiative etwas grösser sein.
Haben Sie da ein Beispiel?
Ja, schauen wir die Büvetta an, die Trinkhalle bei Nairs. Da besteht ein grosser Teil des Vorstands aus Unterländern. Es scheint, dass es zu wenig Leute aus dem Tal gibt, die dem Tal helfen wollen. Die Motoren sind zu oft Unterländer. Diese Situation treffe ich auch anderswo an.
Worauf führen Sie das zurück?
Oft sind Leute mit Zweitwohnungen solche, die im Unterland «etwas erreicht haben», wie man so schön sagt. Kurz: Es sind aktive Leute. Sie sind bereit, etwas für ihre zweite Heimat zu tun, haben einen weltoffenen Geist, berufliche Erfahrung und sehen mit etwas Distanz oft deutlicher, was zu ändern wäre. Man muss sie natürlich pflegen und motivieren. Es gibt diesbezüglich gute Beispiele.
Wo sehen Sie die Entwicklung in den nächsten 15 Jahren?
Das Berggebiet muss aufhören, sich zu bemitleiden, aufhören mit der Haltung, hier sei alles schwieriger. Anders ja, aber nicht schwieriger. Ausbildung, Digitalisierung und Risikobereitschaft sind wohl die Schlagworte. Am besten wäre es , wenn die Jungen im Unterland die Ausbildung machen, ein paar Jahre berufliche Erfahrungen sammeln und dann mit breitem Erfahrungsschatz wieder zurückkehren. In die Berge, die sie charakterlich geprägt haben damit die Region mithilfe dieses Wissens maximale Produktivität erreichen kann.