Den Gründern und der lokalen Bevölkerung von damals war bewusst, dass sie keine ursprüngliche, naturbelassene «Wildnis» schützen würden. Allein der Name des Passes, der bereits damals mitten durch das Gebiet des späteren Schweizerischen Nationalparks (SNP) führte, zeugt davon: Pass dal Fuorn – Ofenpass. Die Hochöfen, welche bis ins späte 17. Jahrhundert rauchten, hatten einen grossen Einfluss auf das ganze Gebiet: Die Bergföhrenwälder wurden kahlgeschlagen, zu Holzkohle verarbeitet und in den Öfen verheizt. Der Einfluss des Menschen auf die Ökologie des heutigen Nationalparkgebiets war immens, auch im Vergleich zu anderen ländlichen Gegenden der Schweiz. Danach ging der Einfluss des Menschen kontinuierlich zurück. Mit der Gründung des SNP 1914 etablierte sich die Idee, nun der Natur ein Stück Schweiz zurückzugeben. Die Vision war, in einem lang andauernden Experiment einen Verwilderungsprozess in Bewegung zu setzen, mit offenem Ausgang.
Forschung als Gradmesser
Wo stehen wir knapp 110 Jahre nach dem Start dieses, in seiner Konsequenz auch weltweit betrachtet, einzigartigen Wildnis-Experiments? Dank der gleichzeitig etablierten und bis heute kontinuierlich weitergeführten Forschung, welche die Entwicklung der Natur dokumentiert, analysiert und kommentiert, haben wir einige Anhaltspunkte. Eines vorneweg: Die «ursprüngliche Lebensgemeinschaft», welche die Gründer des SNP zurückerwarteten, hat sich bis heute nicht wieder eingestellt. Einfach deshalb, weil gar nie definiert werden konnte, was die «ursprüngliche Lebensgemeinschaft» denn eigentlich ist. Oder auch, weil der Einfluss des Menschen eben doch den ganzen Globus erfasst. Das offensichtlichste Beispiel ist der vom Menschen verursachte Klimawandel. Dieser macht auch vor den Grenzen des Nationalparks nicht halt und führt u. a. zu einem grundsätzlichen Höhersteigen von Pflanzen und Tieren. So wissen wir dank früheren Aufzeichnungen im Vergleich zu den heutigen, dass z. B. die gefleckte Schnirkelschnecke aktuell bis zu 150 Höhenmeter weiter oben lebt als in den 1920er-Jahren. Eine Feststellung, die wir weltweit überall in den Gebirgsregionen machen können.
Totholz als Hotspot der Biodiversität
Ein Lebensraum ist im Nationalpark aber ganz sicher naturnäher und damit wilder geworden – der Wald. Die Aufgabe der forstlichen Nutzung hat dazu geführt, dass die Wandernden im Gebiet des SNP heute einen Wald erleben, der alle Altersgruppen von Bäumen umfasst: vom jungen, einjährigen Trieb bis hin zu alten, teilweise abgestorbenen Bäumen. Das Totholz bleibt im Gegensatz zu vielen anderen Gebieten liegen. Dieses bietet einen wichtigen Lebensraum für enorm viele Arten und ist damit ein Hotspot der Biodiversität. Durch das Ausbleiben jeglicher Nutzung durch die Menschen gibt es im SNP übrigens auch kein Problem mit der Verjüngung des Waldes. Die Wildtiere können jederzeit auf die Weiden zum Äsen. Das führt dazu, dass sich der Wald im SNP prächtig verjüngt. Und dies trotz einer rekordhohen Dichte an Rothirschen. Mehr noch, es gibt heute Grund zur Annahme, dass die hohe Dichte an Rothirschen, Gämsen und Steinböcken das Aussehen natürlicher Landschaften entscheidend prägen.
Neue Erkenntnisse
Manchmal überraschen uns Erkenntnisse aus der Natur des SNP auch heute noch. Bis vor wenigen Jahren waren alle davon überzeugt, dass es sich bei den Bergföhrenwäldern am Ofenpass um eine Folge der intensiven Holznutzung im Verlaufe der letzten 1000 Jahre handelt. Die Prognose lautete, dass sich während der nächsten Jahrhunderte ein Lärchen-Arvenwald entwickeln würde. Das stimmt im Grundsatz. Aber Forschende haben festgestellt, dass die Bergföhrenwälder schon über 8000 Jahre in dieser Form existiert haben. Denn zwischendurch hat es dank des vielen Totholzes immer wieder grossflächige Waldbrände gegeben. Diese haben das natürliche System regelmässig quasi «zurückgestellt». Dadurch entstanden ideale Flächen, auf denen sich die Bergföhre als Pionierbaumart als erste wieder etablieren konnte. Das haben Bohrkerne in einem Moor bei Il Fuorn gezeigt.
Und jetzt?
Wenn wir uns also fragen, wie wild der Schweizerische Nationalpark nun heute ist, lautet die Antwort: Ein bisschen wilder ist er, das sehen wir beim Wald. Aber wir müssen weiter daran arbeiten, unseren Einfluss auf den Nationalpark und auf die ganze Natur darum herum zu reduzieren und ihr zu vertrauen, dass sie problemlos erhalten, sich entwickeln und «wilder» werden kann.