Der Mensch ist gleich geblieben, die Arbeitswelt hat sich verändert

Jürg Wirth Philippe Widmer ist seit dem 1. Dezember 2023 Klinikdirektor der Clinica Holistica in Susch. Im Interview erklärt er, wie man vielleicht einem Burnout vorbeugen kann oder weshalb ihm das Engadin so gefällt.

Wie beugen Sie einem Burnout vor?

Vielleicht, indem ich nicht ganz so gewissenhaft bin. Vielleicht bin ich auch ein bisschen weniger perfektionistisch und kompetitiv und lege zudem die Latte für meine persönlichen Leistungen nicht so hoch. Spass beiseite – solche Persönlichkeitsmerkmale können zwar zur Entwicklung eines Burnouts beitragen, müssen aber bei weitem nicht immer dazu führen.

 

Sie denken, dass Perfektionismus und zu hohes Pflichtbewusstsein zu einem Burnout beitragen können?

Ja, das denke ich durchaus. Diese Charaktereigenschaften können einen günstigen Nährboden darstellen, aber die Gründe, die zu einem Burnout führen, sind oft vielfältig. Was mir auch hilft, ist die Tatsache, dass ich auf eine tolle Familie mit vier Kindern zählen kann, einen erfüllenden Job habe und ein gutes und stabiles soziales Netzwerk, also physisch, nicht elektronisch. Das alles hilft, ist aber trotzdem kein absoluter Schutz gegen ein Burnout. Ich schätze mich glücklich, dass ich zu den Menschen gehöre, die etwas besser mit Stress oder anderen Belastungen umgehen können. 

 

Weshalb gibt es denn so viele Leute mit Burnout?

Da spielen sicher externe Faktoren eine grosse Rolle. Der Mensch ist eigentlich immer noch gleich wie vor 50 oder 60 Jahren. Die Arbeitswelt und das Privatleben haben sich aber in dieser Zeit komplett geändert. Der Druck auf die Produktivität ist stark angestiegen, sicher auch wegen der Globalisierung. Die meisten Unternehmen bewegen sich heutzutage in einem deutlich kompetitiveren Umfeld als noch in den 70er-Jahren. Damals wurde beispielsweise ein Perfektionist für seine Arbeit gelobt. Heute jedoch fehlt ihm die Zeit, seine Arbeit in seinem Sinne beenden zu können, dies führt zu Frustration.

 

Kommt denn ein Burnout tatsächlich nur vom Arbeiten oder steckt da noch mehr dahinter?

In den meisten Fällen ist ein Burnout mit der Arbeit verbunden, es gibt aber auch andere Konstellationen, die zu dazu führen können. Man spricht zum Beispiel auch vom elterlichen Burnout. Stress kann auch von anderen Dingen herkommen, zum Beispiel bei Leuten, die überengagiert sind.

 

Wie können wir alle einem Burnout vorbeugen?

Im Internet findet man eigentlich viele Ratschläge zur Burnout-Prophylaxe. Doch niemand steht auf und sagt, jetzt will ich einem Burnout vorbeugen. Was sicher vielversprechend ist, ist die Sensibilisierung und die Entstigmatisierung. Wenn gewisse Zeichen früher identifiziert werden, kann man entsprechend schneller reagieren und besser damit umgehen. An die primäre Prophylaxe glaube ich nicht.

 

Wie bemerkt man ein Burnout?

Die Frühsymptome sind zum Beispiel Schlafstörungen, körperliche oder mentale Erschöpfung. Oft findet auch eine Distanzierung zum Job statt, sogar ein gewisser Zynismus der Arbeit gegenüber. Es kann auch zu einem Gefühl des Kontrollverlustes führen, aber grundsätzlich unterscheiden sich die Symptome von Mensch zu Mensch. 

Wichtig wäre eine Früherkennung, sodass sich ein Burnout in vielen Fällen ambulant behandeln lässt. Ein stationärer Aufenthalt wird erst in Betracht gezogen, wenn die ambulante Therapie an ihre Grenzen kommt. Die meisten Patient*innen, die wir in Empfang nehmen, sind seit Monaten nicht mehr im Arbeitsmarkt integriert. Die Therapie in einer Klinik ist offensichtlich mit höheren Kosten verbunden, was sich aber lohnt, wenn die Patient*innen nach dem Aufenthalt eine schnellere Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erleben. Der Standardaufenthalt in unserer Klinik dauert sechs Wochen. Unsere Erfahrung zeigt, dass das der beste Kompromiss ist zwischen den Vorteilen einer stationären Behandlung und dem Risiko, zu lange von der Realität entfernt zu bleiben.

 

Und wie lässt es sich am besten therapieren?

Wir legen hier grosses Gewicht auf Psychotherapie, dabei wird das Leben der Leute aufgerollt. Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe. Das heisst, die Person kann reflektieren und sich über ihre Ziele und Werte im Leben Gedanken machen. Es geht auch darum, die Warnzeichen früher zu erkennen. Das Therapieprogramm beinhaltet auch andere Angebote wie Kunsttherapie, Sporttherapie, Akupunktur, Tanz, Bewegung oder auch eine Kletterwand. Dort lernen die Leute, spätestens wenn sie oben sind, sich loszulassen und sicher abseilen zu lassen. Im Vordergrund bei all den Aktivitäten steht, dass sich die Leute keine ambitionierten Ziele setzen. Denn es ist unglaublich, welch hochgesteckte Ziele Menschen selbst bei ihren Hobbys verfolgen. Wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst, denn die Leute sind zum Teil sechs bis zwölf Monate ohne Arbeit, wenn sie bei uns ankommen. Da kommen dann oft auch noch soziale Probleme dazu. 

 

Geht es dabei auch darum, sein Leben umzustellen?

Grundsätzlich sollten die Patient*innen «Muskeln» für bestimmte Situationen trainieren, damit sie wissen, wie sie das nächste Mal mit einer ähnlichen Situation umgehen können. Ein Stück weit kann es auch eine Umstellung im Leben sein, zum Beispiel, dass man überlegt, welche Arbeiten oder Ämter man besser aufgibt. 

 

Und was kann man tun, damit man nicht wieder ins gleiche Fahrwasser kommt?

Eigentlich ist es das Ziel der Therapie, dass die Leute wieder ins «alte Fahrwasser», sprich in ihren angestammten Beruf zurückkehren können. Eine Langzeitstudie bei unserer Klinik hat gezeigt, dass es gelingt, den grössten Teil wieder in die Arbeitswelt zu integrieren. Wie bereits erwähnt, sind sie auch deshalb nicht länger als sechs Wochen hier, weil sie sonst zu lange ausserhalb der Realität sind. 

 

Fliessen Erkenntnisse aus der Praxis der Therapien und Fälle in die Arbeitswelt ein?

Grössere Firmen betreiben durchaus seit 10 bis 15 Jahren Projekte zur Work-Life-Balance, aber gleichzeitig sind sie häufig börsenkotiert und stehen unter dem Druck der Aktionär*innen. Es ist schwierig, den Nutzen dieser Initiativen abzuschätzen.

 

Was sind Ihre Beweggründe, sich mit dieser Thematik zu befassen?

Ich erhielt die unerwartete Möglichkeit, innerhalb der Gruppe diese Aufgabe zu übernehmen. Das hat mich gefreut, deshalb bin ich jetzt hier. Als Manager hat mich primär die Herausforderung gereizt, die Leitung einer auf Burnout spezialisierten Klinik zu übernehmen. Ich habe aber grossen Respekt vor den Aufgaben, die mich in dieser Position erwarten. 

 

Wie erleben Sie das Engadin?

Ich bin sehr, sehr glücklich hier. Ich gehe langlaufen oder auf Skitouren, im Sommer dann wandern und Velo fahren. Das Gefühl ist ähnlich positiv wie damals, als ich in Montreal begonnen habe zu arbeiten: Vieles ist neu und will entdeckt werden. Allerdings ist es hier noch spezieller, auch weil sich alle Leute zu kennen scheinen und die Wege kurz sind. So verkaufen sie hier im Laden den Wein des Schwiegersohns, während ihr Sohn jeweils als Elektriker bei uns arbeitet. Man nimmt sich auch die Zeit, um miteinander zu reden. Zudem war es für mich auch der richtige Zeitpunkt für diesen Wechsel, weil meine Ambitionen und Ziele nicht mehr die gleichen sind wie noch vor 15 Jahren. Dafür ist mir die Lebensqualität wichtiger und die ist hier unübertroffen.

Philippe Widmer mag auch das Engadin sehr.
Philippe Widmer mag auch das Engadin sehr. © Jürg Wirth
Zur Person

Philippe Widmer ist im Kanton Freiburg aufgewachsen und hat ursprünglich Pharmazie studiert. Nach ersten Stationen als Spitalapotheker hat es ihn in die Industrie gezogen, wo er seine Karriere in der Pharmawelt startete. Zwischendurch führte ihn sein Engagement bis nach Montreal oder nach Osteuropa. Seit dem 1. Dezember 2023 ist er nun Klinikdirektor der Clinica Holistica in Susch. 

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