Die Dörfer des Unterengadins sahen nicht immer so aus wie sie heute aussehen, sondern sie haben sich entwickelt. Im Anfang standen die Türme, von welchen aus die Burgherren das Tal überwachten. Dann wuchsen die Dörfer. Anfangs noch mit kleinen Häusern, die ebenfalls Türmen glichen. Erst später entstanden daraus die Häuser, wie sie heute noch die Dörfer prägen, in der klassischen Engadiner Bauweise mit Tablà und Wohnteil. Gruppiert wurden die Häuser um Brunnen, welche die Zentren der jeweiligen Dorfteile bildeten. An ihnen fand das Leben statt, weil die Menschen dort ihre Kleider wuschen, die Tiere tränkten und Neuigkeiten austauschten. So weit zur bestehenden Baukultur. Doch wir alle wissen und merken täglich, dass das Leben nicht stehen geblieben ist und längst nicht mehr alle Bewohner Bauern sind. Und wenn doch, dann bewirtschaften sie ihren Betrieb nicht mehr im Dorf. Weil sie zu wenig Platz haben, das Surren des Heugebläses die Nachbarn stört und das Bimmeln der Kuhglocken manchmal ebenfalls.
Die Häuser wurden und werden umgenutzt und umgebaut. Aus dem Tablà entstehen im Sinne eines möglichst vorteilhaften Kosten-Nutzen-Verhältnisses möglichst viele kleine Wohnungen oder im besseren Fall grosszügige Wohnlandschaften. Der zentrale Speicherofen als einstmals einzige Wärmequelle erhält Unterstützung oder Konkurrenz aus dem Boden oder durch einen weiteren Ofen. Weil aber die Eingriffsmöglichkeiten in den Dorfkernen begrenzt sind, leben sich die frischgebackenen Einfamilienhausbesitzerinnen und -besitzer gemeinsam mit ihren Planern an den Dorfrändern aus. Dorthin haben die Quartierplaner die neuen Wohnquartiere verbannt. Spätestens beim Gang durch diese Neubauquartiere wird klar, dass es mit dem Wissen um die hiesige Baukultur nicht mehr weit her ist.
Baukultur macht Schule
Dies muss auch Tinetta Rauch, Riet Fanzun und Adriana Stuppan aufgefallen sein. Anstatt aber den Kopf in den Sand zu stecken oder schnöde über die heutigen Bausünden hinwegzublicken, haben sich die drei dieser Problematik gestellt. Und weil die bestehenden Häuser schon gebaut sind und dort quasi nichts mehr zu machen ist, wenden sie sich an die zukünftigen Bauherrschaften – an die Primarschüler.
Mit ihnen führen sie wöchige Workshops zum Thema Baukultur durch. Dabei pauken sie nicht einfach Architekturgeschichte und -theorie, sondern lassen die Schülerinnen und Schüler die Bauten, die Kultur und deren Geschichte erleben und erfahren. Sie schulen Wahrnehmung und Bewusstsein, beispielsweise indem die Kinder Collagen aus verschiedenen Unterlagen erstellen. Orte suchen, die ganz gut oder ganz schlecht riechen, sich mit geschlossenen Augen durchs Dorf führen lassen und dabei trotzdem möglichst viel wahrzunehmen versuchen.
Die erste Station der drei Baukulturvermittler war die Schule Ardez, weitere sollen folgen.