Friedhöfe faszinieren mich. Nicht, dass ich da irgendwelche obskuren Partys feiern würde, aber ich besuche gerne Friedhöfe. Ich mag die Ruhe, welche diese Orte ausstrahlen, auch den leichten Schauer, der von ihnen ausgeht, und dann mag ich es, fiktive Lebensgeschichten der unbekannten Verstorbenen zu erfinden.
Diese Faszination ist nicht ganz neu, sondern soll sich gemäss Erzählungen bei mir schon als kleines Kind manifestiert haben. Damals besuchte ich oft mit meiner Tante Friedhöfe, und bei jedem Grabstein musste sie mir erklären, woran die Toten gestorben waren. Natürlich wusste sie das nur in den seltensten Fällen, weshalb sie mir dann einfach irgendeine Geschichte aufgetischt hat. Das brauchte sie am Grab des unbekannten Soldaten, wie die Gedenkstätten für die im Krieg gefallenen Soldaten hiessen, nicht zu erklären, dafür wollte ich da den Namen des Soldaten wissen. In der Pfadi suchten wir bei den Rekognoszierungsspielen die häufigsten Familiennamen eines Dorfes auf den Grabsteinen. Selbstredend, dass ich als grosser Fan von The Doors in meinen Paris-Ferien einen Abstecher aufs Grab von Jim Morrison auf dem legendären Friedhof Père Lachaise machte. Die ganz berühmten Prominenten sucht man auf den hiesigen Friedhöfen vergebens, doch Schriftsteller oder Pfarrer und selbst verstorbene Kriegsflüchtlinge findet man durchaus.
Letztere auf dem Friedhof in Scuol, ein Ort, der allein schon wegen der spektakulären Lage einen Besuch lohnt. Die Kirche samt Grabfeld befindet sich im Unterdorf auf einem Hügel und ist weitherum sichtbar. Munt Baselgia heisst der Ort, was durchaus Sinn macht. Ob der felsigen Lage, so ist es im Buch «Scuol» von Paul Eugen Grimm nachzulesen, mangelte es dem Friedhof allerdings immer etwas an Erde, weshalb die Gräber zu wenig tief gegraben werden konnten. Bereits 1900 entschied die Gemeinde, Erde von einem Bauplatz auf den Friedhof zu führen. 1961 dann regte Bezirksarzt und Chronist Men Gaudenz eine Sanierung an. Er wies auf die problematischen sanitätshygienischen Verhältnisse hin. So habe der Totengräber bei einem einzigen Grab sieben Schädel gefunden. Gaudenz’ Worte fanden schliesslich Gehör, und einige Jahre später wurde der Friedhof umfassend umgestaltet und saniert. Die Platte, welche an besagte Flüchtlinge erinnert, wurde aber belassen und steht noch immer just neben der Kirche und trägt folgende Inschrift: «Oh Dieu donne nous la paix, preserve nous de la guerre. Ici reposent 7 victimes de la terrible guerre mondiale 1939 – 1945, 6 deportés politiques françaises rapatries du camp de concentration mauthausen et un soldat russe.» Allerdings sind einige Jahre später fünf der sechs Franzosen repatriiert worden.
Während der Friedhof von Scuol unmittelbar neben der Kirche liegt, befindet sich derjenige von Sent am Dorfrand, weit von der Kirche entfernt, weil er um 1900 dorthin verlegt wurde. Der bestehende platzte aus allen Nähten. Die Gräber auf der neuen Sentner Grabstätte sind durchaus spektakulär und lassen die Besucher sich ein ganz klein wenig auf dem legendären Père Lachaise wähnen. Geschuldet sind die prunkvollen Grabmale den Randulins, also den Sentnerinnen und Sentnern, welche ihr Glück im Ausland, meist in Italien suchten und oft auch fanden. Ihnen war es ein Anliegen, die letzte Ruhe in ihrem Heimatdorf anzutreten. Ebenfalls ein Anliegen schien es ihnen gewesen zu sein, der Nachwelt zu zeigen, dass sie es zu etwas gebracht haben. Bazzell, Lansel oder Corradini stehen für erfolgreiche Auswanderer.
Nicht immer nur zur Freude der Einheimischen, erklärte einst Dominique Mosca, eine Randulina. Doch es werde allzuoft vergessen, dass der Friedhof in Sent mit den Geldern der Randulins gebaut wurde und er für viele der Nachkommen der ausgewanderten Familien eine ewige Rückkehr in die Heimat bedeute.
In Ardez liegt nicht nur der Friedhof abseits des Dorfes, sondern auch noch gleich die Kirche – allerdings nur die katholische. Erbaut wurde diese 1871 und besonders gut frequentiert während des Eisenbahnbaus von den italienischen Arbeitern, die katholisch waren, einem strengen Freizeitregime unterlagen und für die der Gang in die Kirche bereits schon zur Zerstreuung gehörte. Doch bis heute ist das Grabfeld überschaubar und es finden sich die klassischen katholischen Namen unserer Region, meist von Tarasp her eingewandert.
Ein sehr schöner Friedhof aber liegt in Lavin, so empfindet es zumindest Margarita Filli. Sie betreut seit 1974 als Siegristin den Friedhof und die Kirche. An ihre erste Beerdigung erinnert sie sich noch, als wäre es gestern gewesen. Der Sarg sei vor dem Haus des Verstorbenen gestanden und war mit einer schwarzen Decke bedeckt. Ein Bild, das sie nicht mehr vergisst. Ebenfalls unvergesslich ist für die quirlige Siegristin der Tag, an dem sie ihren eigenen Mann zu Grabe tragen musste.
Stirbt jemand in der Gemeinde, muss sie am selben Tag, morgens um 9 Uhr eine Viertelstunde lang die Nachtglocke läuten. Danach erscheint der Name auf der elektronischen Informationstafel. Früher sei sie noch von Haus zu Haus gegangen, um die traurige Nachricht zu verkünden. Am Tag der Beerdigung läutet sie wieder um 9 Uhr alle Glocken, um das Begräbnis anzuzeigen, dann nochmals um 13.15 Uhr. Früher war es üblich, dass sich der Leichenzug dann vom Haus des Verstorbenen entfernte und durchs Dorf zur Kirche zog. Während der Zeit stand das Dorfleben still. Heute ist dies kaum mehr der Fall, da immer mehr Urnenbegräbnisse stattfänden.
Margarita Filli verwaltet auf «ihrem» Friedhof rund 70 Gräber. Grad letzthin seien wieder 22 Gräber aufgehoben worden. Auch da würde man immer mal wieder Knochen finden oder Nylonstrümpfe. Geradezu ein grosser Fund, war derjenige des Skelettes im letzten Jahr beim Neubau des Bahnhofs Lavin. Dieses war unter der Friedhofsmauer begraben.
Ansonsten hat sie keine Erlebnisse gemacht, die sie schauern liessen, einen Geist habe sie nie gesehen. Ausser vielleicht einmal, aber das war ein lebendiger, respektive ein Mann, der in der Ecke auf der Kirchentreppe sass. Damals habe sie sich kaum mehr aus der Kirche getraut. Ansonsten aber ist sie gerne auf dem Friedhof. Und weiss erst noch die Geschichte der meisten Begrabenen.