Ich habe keine Angst vor einer Mangellage

Jürg Wirth Jachen Gaudenz ist Mitglied der Geschäftsleitung der Engadiner Kraftwerke in Zernez. Im Interview erklärt er, weshalb es nicht zu einer Mangellage kommen wird und wie der Strommarkt eigentlich funktioniert.

Gehen diesen Winter tatsächlich die Lichter aus?

Nein.

Und wieso nicht?

Weil es genügend Strom hat.

Warum reden denn immer alle von der Mangellage?

Das ist eine Art vorbeugende Massnahme, um die Bevölkerung darauf aufmerksam zu machen, dass allenfalls so etwas passieren könnte. Weil es auf dem Energiemarkt im Moment wirklich nicht funktioniert.

Was heisst, es funktioniert nicht?

Der Energiemarkt ist wie im luftleeren Raum. Niemand weiss, was morgen angeboten wird und wie teuer das ist. Deshalb ist das Ganze nicht begreifbar.

Aber Sie sagen, grundsätzlich haben wir in der Schweiz genügend Strom, um auch im Winter alle Haushalte zu versorgen?

Wenn Sie sagen grundsätzlich, muss ich sagen, nein, grundsätzlich haben wir es nicht. Oder ja, grundsätzlich haben wir es. Es kommt einfach darauf an, wie man es anschaut. Wenn man das momentane Verbrauchsprofil der Stromkonsument*innen anschaut, dann haben wir an gewissen Tagen zu wenig schweizweit produzierte elektrische Energie.

Vor allem im Winter?

Ja, vor allem im Winter. Dazu ein paar Zahlen:

Landesproduktion: 50'587 GWh, Landesverbrauch: 53'289 GWh, Endverbrauch: 49'579 GWh. Einfuhr: 29'887 GWh, Ausfuhr: 23'445 GWh, Einfuhrüberschuss: 6'442 GWh.

Man bräuchte, um den Stromverbrauch zu decken, maximal 3'000 GWh.

Ausfuhr vor allem im Sommer, Einfuhr im Winter. Wieso also füllt man nicht einfach im Sommer die Speicherseen, anstatt den Strom zu verkaufen?

Im Jahr 2008 hat die Schweiz das Energiemonopol zugunsten eines freien Marktes aufgehoben. Freier Markt ist Angebot und Nachfrage: Wenn das Angebot im Sommer da ist, dann wird verkauft.

Das heisst, um sicher zu sein, dass man genug Strom hat, müsste man die Unternehmen wieder verstaatlichen?

(Seufzt etwas…) Ja, wenn der Wunsch der Bevölkerung eine allzeit sichere Stromversorgung aus einheimischen Kraftwerken ist, dann geht es nicht mit einem freien Markt.

Aber so gut scheint der freie Markt nicht zu funktionieren. Eben hat der Bund einen Kredit von vier Milliarden Franken für die Axpo gesprochen, um die Preise zu decken, die sie mit den Stromgeschäften macht.

Also erstens mal sind diese vier Milliarden kein Kredit, sondern das ist eine Sicherheit, die die Axpo sehr wahrscheinlich nie brauchen wird.

Auf dem Energiemarkt ist es wie auf anderen Märkten: Wenn ich etwas verkaufe, das ich noch nicht habe, muss ich das absichern. Wenn ich jetzt also Strom für die Zukunft verkaufe, den ich noch gar nicht habe, dann muss ich meinen Käufer*innen garantieren, dass ich den Strom auch liefere, und das mache ich mit einer Bankgarantie oder sonst einer Versicherungsgarantie oder mit einer Staatsgarantie. Wenn jetzt meine Garantien als Lieferant*in oder als Hersteller*in aufgebraucht sind, gibt mir die Bank nur eine Garantie, wenn sie auch wieder einen Gegenwert hat, das ist mein Unternehmen. Bringt mein Unternehmen den Gegenwert nicht mehr, weil die Garantie auf meinem Unternehmen schon eingesetzt ist, dann brauche ich eine andere Garantie, das wäre dann die vom Staat. Verkaufe ich Energie auf einen Termin, muss ich termingerecht liefern, sonst wird es dunkel, und das ist das Problem. Verkaufe ich jemandem Energie für den nächsten März und dem anderen für den nächsten April, dann muss ich das gleichzeitig beiden auch garantieren.

Und man verkauft so weit im Voraus, weil man auf den Preis «wettet», man also hofft, dass der Preis, den man für die Produktion bezahlen muss, tiefer ist als derjenige, den man abgemacht hat?

Ja, das ist freier Markt.

Und wird der ganze Strom so verkauft oder gibt es auch Strom, der kontinuierlich verkauft wird?

Eigentlich gibt es drei verschiedene Strommärkte. Einer ist ein Langfristmarkt, der über Jahre in die Zukunft läuft. Der zweite ist ein Mittelfristmarkt, da handelt es sich um Monate, und der dritte ist der Spotmarkt, wo praktisch jede Viertelstunde gehandelt wird.

Also ist es in etwa so wie bei den Hypotheken?

Ja ja, das ist genau das Gleiche.

Die Unternehmen müssen handeln, um ihren Strom zu verkaufen, weil sie auf einem freien Markt agieren, sonst wäre es staatlich?

Ja, denn entweder gibt es einen freien Markt oder einen kontrollierten.

Kaufen die Unternehmen auch Strom ein und verkaufen ihn dann wieder weiter?

Ja, das machen sie auch. Die Axpo beispielsweise hat eigene Anlagen. Sie ist beteiligt an verschiedenen Anlagen, unter anderem auch an den EKW. Dort produzieren sie, das ist finanziell das Sicherste, das sie haben. Denn wenn ich selber produzieren kann, dann produziere ich vielleicht für vier oder fünf Rappen. Wenn der Markt dann sieben oder acht Rappen zahlt, habe ich 100 Prozent Gewinn. Wie in allen anderen Märkten handelt man auch im Energiemarkt, ähnlich wie bei den Hypotheken. Es werden Langfristverträge abgeschlossen. Ist aber der Marktpreis für den aktuellen Termin so gut, dass mit Verkäufen dieses Pakets mehr Gewinn gemacht werden kann, als abzuwarten und erst dann zu liefern, dann wird das Paket verkauft. Das ist genau das Gleiche wie am Geld- oder Tomatenmarkt.

Nur brauchen alle Leute Strom, und den Handel am Geldmarkt brauchen nicht unbedingt alle. Ist es denn ein Thema, dass der Staat wieder mehr in den Markt eingreift?

Nein, das ist überhaupt kein Thema. Denn die Ansicht vieler Leute, übrigens auch der Kantone, die die grössten Eigner der Kraftwerke in der Schweiz sind, ist es, dass es besser ist, wenn man am Markt ist, weil man dann mehr verdient.

Genau, man verdient mehr, wenn es gut geht und sonst kann man ja den Staat um Garantien anfragen.

Das ist unser System, siehe auch Swissair oder UBS.

Vorhin haben Sie erwähnt, dass der Energiemarkt völlig ausser Rand und Band ist. Können Sie das etwas ausführen?

Grundsätzlich hat jeder Energieträger seinen eigenen Markt, ausser vielleicht Brennholz, das man bei der Gemeinde kauft. Aber sonst sind das alles Märkte, bei denen Angebot und Nachfrage gilt. Jetzt gerade gibt es vier Faktoren, die da reinspielen. Einer ist der ziemlich trockene Sommer, es hat sehr wenig Wasser. Die EKW haben in diesem Jahr so wenig Wasserzufluss gehabt wie noch nie seit Bestehen des Betriebes. Dann ist die Hälfte der Kernkraftwerke in Frankreich ausser Betrieb aufgrund von Störungen oder Instandhaltungen, und von dort wird viel Strom importiert. Der dritte Faktor ist unser guter Kollege Vladimir (Putin), der uns den Gashahn zudreht und viertens will die OPEC die Fördermenge auch noch reduzieren. Es läuft also alles auf höhere Preise hinaus.

Wie sieht denn die Stromproduktion in Europa aus? In der Schweiz beträgt der Anteil der fossilen oder thermischen Energien an der Stromproduktion nur ein Prozent.

Das ist komplett unterschiedlich, in jedem Land ist es anders. Frankreich zum Beispiel hat fast 90 Prozent Atomstrom, Norwegen hat fast nur Wasserkraft, Österreich hat keinen Atomstrom, Italien, so meine ich, auch nicht, und die Schweiz hat einen Mix. Aber die Märkte funktionieren über ganz Europa, das ist nicht länderbegrenzt.

Ist da ein Ende absehbar in dieser schwierigen Lage, also beispielsweise, wenn der Krieg aufhören würde?

Aus meiner Sicht würde das den Preis gerade halbieren, denn das ist schon einer der stärksten Treiber. Wir hatten auch früher schon Jahre mit wenig Wasser, und auch Frankreich hat öfter mal ein paar Werke in Revision. Das Problem ist einfach, dass jetzt alles zusammen kommt.

Handelt die EKW auch mit Strom?

Nein. Die EKW ist ein Partnerwerk, will heissen, eigentlich ein Joint Venture. Das heisst, es gibt Partner*innen oder Aktionär*innen, die sich zusammentun, um das Werk zu erstellen und zu betreiben. Diese Partner*innen beziehen dann den Strom und sagen jeden Tag, wie viel produziert werden soll und wie viel nicht. Dafür müssen sie die Jahreskosten übernehmen.

Sagen denn die Partner*innen jetzt, wo der Strom knapp ist, dass die EKW mehr produzieren sollen?

Nein, die Partner*innen sind am Markt, und die handeln da ihre Strommengen aus. Wir bekommen jeden Tag einen Fahrplan und gemäss diesem müssen wir fahren. Das ist ein Fahrplan, der auf die Viertelstunde genau funktioniert. Momentan ist es so, dass wir am Morgen früh etwas produzieren, dann stellen wir ab und produzieren so gegen 16.00 Uhr wieder bis so gegen 21.00 oder 22.00 Uhr, und dann stellen wir wieder ab.

Aber die EKW könnten auch mehr produzieren?

Nur bedingt, denn die Stromproduktion ist abhängig vom Wasserzufluss und der liegt jetzt in der Grössenordnung von 20 oder 30 Kubikmeter Wasser pro Sekunde. Eine Maschine in Pradella braucht 17 Kubikmeter pro Sekunde. Fährt man jetzt mit vier Maschinen, sind das 72 Kubikmeter – fliessen nur 30 Kubik zu, können wir nur die Hälfte produzieren. Die EKW sind die Betreiber*innen der Anlagen, welche den Partner*innen gehören. Diese geben die Produktion vor.

Nach dem Heimfall könnte man dann selber über die Stromproduktion bestimmen?

Ja, vielleicht. Momentan haben Gemeinden und Kantone am EKW-Aktienkapital 18 Prozent Aktienanteil. Diesen Aktienanteil können sie schon erhöhen. Ich glaube aber, was sie nicht rechnen, sind die Jahreskosten. Bei den EKW betragen diese 70 bis 80 Millionen Franken, und das übernehmen jetzt die energiebeziehenden Partner*innen. Nachher müssten das die Gemeinden und der Kanton übernehmen.

Möchten sie 50 Prozent eines Werkes übernehmen, sind das auch 50 Prozent der Jahreskosten, also bei EKW etwa 35 Millionen Franken. Dann kommt es darauf an, ob der Markt gut ist oder nicht. Denn in den letzten Jahren haben unsere Energieunternehmen Milliarden draufgezahlt. Klar haben sie vorher jahrelang Gewinn gemacht und konnten damit die Verluste begleichen.

Aber schlussendlich rentiert es schon für die Partner*innen, sonst würden sie das gar nicht machen?

Ja, über die Zeit schon. Der Unterschied zu anderen Märkten liegt in den Investitionskosten. Bei den EKW waren das ungefähr eine Milliarde Franken in den 60er- und 70er-Jahren, bei Martina nochmals 800 Millionen. Also rund 1,8 Mrd. Franken, die jetzt zur Hälfte schon wieder zurückbezahlt sind. Aber solche Summen kann man nicht einfach über fünf Jahre zurückzahlen, deshalb laufen die Verträge über 80 Jahre. Und über diese Zeit rentiert es sich dann schon.

Aber so, wie es jetzt ist, können die EKW nie Verlust machen oder Konkurs gehen?

Nein, das geht so nicht, weil die Partner*innen die Verluste übernehmen müssen.

Ist also noch ein angenehmes Arbeiten?

Ja ja, aber die Partner*innen schauen einem schon auf die Finger.

Wie hoch werden nun die Strompreise im nächsten Jahr?

Das kann ich nicht so genau sagen, weil wir Konsument*innen im Unterengadin den Strom bei Energia Engiadina beziehen. Jetzt ist es so, dass die EE die Energie bei den Konzessionsgemeinden bezieht und die Konzessionsgemeinden bekommen auf der Basis der Konzessionsverträge einerseits Gratis- und Vorzugsenergie von den EKW, und andererseits können sie bei EKW noch die Zusatzenergie zu Gestehungspreisen erhöht um einen Rappen beziehen. Die Zusatzenergie ist die Differenz von Konzessionsenergie zu effektivem Verbrauch. Die Summe dieser Energien beträgt ungefähr 100 GWh.

Der Gestehungspreis lag letztes Jahr (2021) bei 3,8 Rp. Die EE sagt, dass der Strompreis etwa 19 Rp./kWh beträgt.

Die EKW verlangen auf Basis der Konzessionsverträge nächstes Jahr (2023) von den Konzessionsgemeinden 8,5 Rp. für diese Zusatzenergie.

Dieser Preis steigt also?

Ja, der hat sich fast verdoppelt.

Und weshalb, ihr produziert ja immer gleich?

Ja, mehr oder weniger, aber wir müssen die Energie für die Gemeinden einkaufen.

Ihr produziert die Energie für die Gemeinden nicht selber?

Nein, das ist ja das Paradoxe. Und zwar ist es so, dass wir die Energie gemäss einem Lastprofil anhand des jeweiligen Bedarfs liefern müssen. Man muss beispielsweise 2 MW am Morgen um 5.00 Uhr liefern, weil die Bauern melken gehen. Das Problem ist, dass die Anlagen der EKW nicht dafür gebaut sind, in so kleinen Leistungen zu produzieren. Das heisst, EKW müsste eine Maschine mit einer Minimalleistung von 10 MW einschalten, um vielleicht 2 MW abzugeben. Was aber soll man dann mit den anderen 8 MW machen? Da bezahlt man höchstens noch drauf, damit die am Markt überhaupt jemand nimmt. Deshalb haben die EKW entschieden, diese Energie einzukaufen, und zwar gemäss des Verbrauchsprofils. Bislang waren die Einkaufspreise für die Energie marginal und konnten von Einnahmen der EKW, beispielsweise aus dem Tunnel Munt la Schera, gut kompensiert werden. Mit dem Anstieg der Energiepreise aber spielen die Einkaufspreise nun plötzlich eine wichtige Rolle.

Dann ist es gar nicht das Ziel, dass man das Tal selber versorgen kann?

Nein, eigentlich war das nie das Ziel. Allerdings hat niemand von einem freien Markt mit Verbraucherlastprofilen geredet oder das irgendwie in Betracht gezogen, als die EKW gegründet wurden.

Das Parlament hat den Bau von neuen Werken sehr erleichtert. Springt da das Herz eines Stromerzeugers?

Ja, vor allem bei der Erhöhung der Grimselstaumauer, das schon.

Meiner Meinung nach kommen wir beim Kraftwerksbau an die Grenzen unseres demokratischen Systems. Auf der einen Seite produzieren wir zu wenig Strom in der Schweiz, auf der anderen Seite dauert es 20 bis 30 Jahre, bis die Bewilligung für ein Projekt vorliegt. Dies, weil gegen die Konzession, das Baugesuch, die UVP immer Einspruch erhoben werden kann, erst vor Regionalgericht, dann vor Bezirksgericht bis hin zum Bundesgericht. So hat man nach 20 Jahren entweder die Baubewilligung oder man hat nichts, und das stört mich etwas.

Also finden Sie grundsätzlich gut, was das Parlament beschlossen hat?

Ja, grundsätzlich schon. Das Problem ist, dass man die Gesetze nicht mehr praktisch anwendet. So kann ich ein beschlossenes Gesetz nicht überall genau gleich anwenden. Je nachdem, ob es nun beispielsweise im Rhonetal oder im Val S-charl angewendet wird, muss meines Erachtens das Gesetz gemäss dem tatsächlich Vorhandenen interpretiert werden. Leitplanken, also Gesetze, sind sicher in Ordnung, damit alle in etwa gleichbehandelt werden. Jedoch kann man meines Erachtens nicht in den Amtsstuben die Gesetze interpretieren, sondern man muss am tatsächlichen Einsatzort die Leitplanken bestmöglich für alle anwenden.

Beginnen denn die EKW jetzt mit dem Bau von Solaranlagen im Engadin?

Die EKW kann sich gut vorstellen, sich in Zukunft an Projekten zur Realisierung von Photovoltaikanlagen im Unterengadin zu beteiligen.

Sparen sie zu Hause auch Strom?

Ja sicher.

Und wie?

Ich habe die Heizung runtergestellt auf 19 Grad.

Gut, Sie sind tagsüber im warmen Büro.

Meine Frau hat gesagt, es sei zu kalt, aber ich habe gesagt, jetzt sparen wir. Aber natürlich sind die 19 Grad am Morgen spürbar. Wenn den ganzen Tag die Sonne scheint, kommen wir aber auch auf 24 bis 25 Grad.

Was machen Sie, wenn der Strom tatsächlich ausfällt?

Eigentlich nichts, denn unser Heizungsspeicher ist die Bodenplatte, und diese speichert die Wärme problemlos über vier bis zu acht Stunden, welche als maximaler Betriebsunterbruch definiert sind.

Dann haben wir noch einen kleinen Holzofen, in dem auch Brot gebacken werden könnte.

Also für den Winter hätte ich keine Bedenken.

Also keine Angst vor der Mangellage?

Nein.

Jachen Gaudenz ist Mitglied der Geschäftsleitung der Engadiner Kraftwerke und hat keine Angst vor einer Mangellage.
Jachen Gaudenz ist Mitglied der Geschäftsleitung der Engadiner Kraftwerke und hat keine Angst vor einer Mangellage. © zvg

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