«Eigentlich schwatze ich mich etwas durchs Leben», meint Nicole Naue leicht scherzhaft. Allerdings ist dies weit untertrieben und auch nicht ganz präzise.
Also versuchen wir einzuordnen und zu präzisieren: Von Juni bis Oktober führt Nicole Naue gemeinsam mit ihrer Familie die Cluozza-Hütte im Schweizerischen Nationalpark in Zernez. Im Winter, wenn sie «frei» hat, zumindest vom Hüttendienst, hält sie tatsächlich oft Vorträge. Allerdings spricht sie auch im Sommer viel – mit den Hüttengästen. Das Gesprächsthema ist dabei fast immer das Gleiche: Nachhaltigkeit. Jetzt nicht direkt gähnen oder, noch schlimmer, das Heft zur Seite legen! Denn Nicole weiss erstens, wovon sie spricht, und zweitens lebt sie die Nachhaltigkeit, auch in ihrer Hütte und seit jungen Jahren.
Verliebt in die Trifthütte
Damals, in den jungen Jahren, hat sie einen Bachelor in Architektur abgeschlossen und anschliessend den Master in nachhaltigem Bauen gemacht. Das Studium umfasste unter anderem die Gebiete Energie, Bauökologie und – eben Nachhaltigkeit. Zur Nachhaltigkeit hat sie auch doziert und mitgeholfen, den Studiengang für nachhaltiges Bauen zu lancieren. Zudem bearbeitete sie weitere Themen dieses Gebietes. So untersuchte sie für den SAC, nach welchen Kriterien man einen nachhaltigen Hüttenbetrieb auszeichnen könnte. Im Rahmen dieser Arbeit verliebte sie sich denn auch – in die Trifthütte bei Meiringen im Haslital. Denn anhand dieser musste Naue die nachhaltige Bewertung durchspielen. Und vielleicht auch darum kam immer mal wieder der Gedanke auf: «Wenn ich genug von der Büroarbeit habe, übernehme ich eine Hütte.» Und plötzlich ging es dann schnell. Das Pächterpaar von der Trifthütte übernahm eine andere Hütte, und Nicoles Objekt der Begierde war plötzlich zur Verpachtung ausgeschrieben. Klar, dass sie sich zusammen mit ihrem Mann Turi subito für die Pacht bewarb. Und tatsächlich erhielten die beiden den Zuschlag. Daraufhin absolvierte Nicole Naue die Wirteprüfung für den Kanton Bern, weil dies – unter anderem – Bedingung war, um die Hütte zu führen. Dabei war sie erst mal überrascht von der Stofffülle und -dichte und dann auch vom anspruchsvollen Schwierigkeitsgrad der Abschlussprüfung. Allerdings blickt sie durchaus dankbar und mit hoher Wertschätzung auf die Zeit zurück, auch weil sie einen Grossteil des Gelernten praktisch anwenden konnte. 2015 starteten sie dann in der Trifthütte. Wer dies gerne bildlich sehen möchte, kann die «Hüttengeschichten» auf SRF nachschauen, dort spielen Naues eine wichtige Rolle. In dieser Zeit wuchs ihnen die Hütte sehr ans Herz, auch weil ihre beiden Söhne Leo und Til quasi auf der Hütte zur Welt kamen und die ersten Lebensjahre dort verbrachten. Ende 2019 erreichte Turi eine schlimme Diagnose. Er arbeitete aber trotzdem wenn immer möglich im Betrieb mit. Im Winter 2021 schliesslich riss eine Lawine die Hütte mit, was das Ende der Ära Trifthütte und Familie Naue bedeutete. Kurzerhand betrieben sie gemeinsam mit der Hüttenwartin der Nachbarhütte im Winter die Windegghütte und taten einen Sommer lang so, als ob es die Trifthütte noch gäbe, indem sie Jurten und Zelte als Übernachtungsmöglichkeiten anboten – mit grossem Erfolg, wie Nicole sagt. Eine Fortsetzung der Geschichte gab es trotzdem nicht.
Da kam es sehr gelegen, dass der Nationalpark die neu renovierte und erweiterte Cluozza-Hütte ausgeschrieben hatte, mit besonderem Augenmerk auf... Nachhaltigkeit.
Alles frisch auf der Hütte
Die Naues bekamen den Zuschlag, und seit letztem Jahr betreiben sie die Hütte nachhaltig. Das heisst beispielsweise, dass sie alles frisch kochen und keine Halbfabrikate verwenden, dass sie keine Süssgetränke anbieten, sondern nur selbst gemachten Sirup als Basis zur Sprudelproduktion, dass sie seit diesem Sommer ein Gemüseabo des Hofes Chavalatsch in Scuol haben und überhaupt alle Produkte in der Region einkaufen. Da sie jeweils noch ein vegetarisches und manchmal ein veganes Menu anbieten, brauchten sie im Vergleich zu anderen Hütten nur rund ein Drittel der Fleischmenge. Dafür kommt nur Fleisch aus dem Engadin auf den Tisch, oft in Bioqualität. Um die Zahl der Helikopterflüge zu reduzieren, haben sie in Zernez einen Kühlschrank aufgestellt und wer will, kann beim Aufstieg zur Hütte gerade noch Käse, Gemüse, Milch oder andere Lebensmittel hochtragen. Den daraus resultierenden grösseren Aufwand federn sie mit drei Angestellten und jeweils drei Freiwilligen ab. Die Freiwilligen bleiben einige Tage bis zu drei Wochen. Das sind Leute, die eine Auszeit machen; Pensionierte, Jugendliche aus der Region, Menschen aus allen beruflichen Ausrichtungen, von der Bäuerin bis zum Oberrichter – aber nicht selten auch Gäste, die gerne mal die andere Seite des Betriebs kennenlernen wollen. Gebraucht werden sie durchaus. Ist die Hütte ausgebucht, übernachten dort 60 Personen. Denn Gästebetreuung schreiben die Naues gross. Dabei vermitteln sie immer wieder, was sie unter Nachhaltigkeit verstehen und wie sie ihre Gedanken auf der Hütte umsetzen. Weshalb Nicole viel mit den Gästen spricht, aber wenig schwatzt.
Weitere spannende Details darüber, wie Familie Naue das kreative Nachhaltigkeitskonzept umsetzt, finden sich in ihrer Geschichte samt Video auf der Website der Ferienregion:
engadin.com/gelebte-nachhaltigkeit-familie-naue