Urs Wohler, wieso hat es vor zehn Jahren die DMO gebraucht?
Das Motto damals lautete: «lieber gemeinsam als einsam». Das heisst: Im Hintergrund gemeinsam machen, wofür die einzelnen Regionen zu klein sind und im Vordergrund möglichst individuell die Botschaften im Markt platzieren. Zudem Kräfte bündeln, um die grossen Aufgaben in der Zukunft gemeinsam lösen zu können, beispielsweise Direktreservation, Positionierungsfragen oder Angebotsentwicklung.
Martina Stadler, wieso braucht es die DMO heute noch?
Die Herausforderungen sind nicht kleiner geworden, sondern eher grösser. Die Zusammenarbeit ist nach wie vor wichtig. Wenn wir im Hintergrund Synergien nutzen, haben wir mehr Luft und Ressourcen für die gästerelevanten Aufgaben wie Gästeinformation, Marketing, Produktmanagement oder Events.
Was sind denn die grössten Herausforderungen?
M.S. Ein grosses Thema ist sicher die Digitalisierung, die eine riesige Flut an Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Corona gehört aktuell ebenso dazu, auch dort besteht man miteinander besser, als wenn jeder für sich Lösungen entwickeln würde.
U.W. Corona ist ein gutes Beispiel, denn so etwas Schlimmes kann tatsächlich passieren, wie wir jetzt sehen.
Wie schwierig ist und war es, drei so unterschiedliche Regionen unter einen Hut zu bringen?
U.W. Man wollte schon damals nie einen Einheitsbrei machen. Es konnte aber der Eindruck entstehen, dass die drei Regionen etwas «verlieren». Unser Credo damals lautete: «Eine Destination, drei Ferienregionen, drei verschiedene Botschaften». Das hat man in den letzten Jahren noch konsequenter und noch besser gemacht.
Trotzdem sind es jetzt immer noch mehrere Büros?
M.S. Ja, und das ist auch wichtig, damit es funktioniert. Reine Zentralisierung wäre nicht erfolgsversprechend. Wir wären zu wenig nah am Produkt und am Gast. Es ist zentral, dass wir in den Dörfern sind, dass die Gäste und Partner wissen, wer ihr Ansprechpartner ist und wir umgekehrt mitbekommen, was läuft. Die Fachkompetenz, die unabhängig von den Inhalten ist, kann man zentralisieren.
Wie positionieren sich denn die einzelnen Regionen?
M.S. Im Val Müstair haben wir zwei UNESCO-Weltkulturerbe mit dem Kloster und der Biosphäre, aber auch einen Naturpark und den Nationalpark: Das kleine, feine, nachhaltige Ferienerlebnis. Samnaun ist der Gegenpol mit Fokus auf alpinen Wintersport, grosse Events sowie das einzige Zollfrei-Shopping-Gebiet der Schweiz. Im Unterengadin reicht die Palette vom Nationalpark und dem einzigartigen Mineralwasser hin zur gelebten Engadiner Kultur, die vor allem in Sprache und Architektur für unsere Gäste greifbar wird.
U.W. Das war vor zehn Jahren genau gleich, da hat sich gar nichts geändert. In der Krise hat sich gezeigt, dass genau diese Positionierung erfolgreich ist. Wir sind damals von den natürlichen Stärken ausgegangen, die es hier hat. Es gibt andere Destinationen, die gehen von dem aus, was der Markt will und entwickeln das. Sie haben dann beispielsweise auf Internationalisierung gesetzt. Regionen wir das Berner Oberland verzeichnen jetzt substanzielle Verluste.
Was macht denn die DMO eigentlich?
M.S. Was sich die meisten Leute vorstellen können, weil sie das persönlich kennen, ist die Gästeinformation. Da gibt es Büros, bei denen man persönlich vorbeigehen, aber auch anrufen, ein Mail schreiben oder chatten kann, um Fragen zum touristischen Angebot zu stellen oder Rückmeldungen zu geben.
Der zweite Bereich, der eher im Hintergrund abläuft, lässt sich grob unter Werbung und Kommunikation zusammenfassen. Das beinhaltet alle Kanäle von Broschüren und Plakatkampagnen über Webseiten und Social Media bis hin zu Fernsehwerbung, Messen etc., über die wir unsere drei Ferienregionen möglichst zielgruppenspezifisch bewerben. Auch das Bündeln von Angeboten zu beispielsweise Pauschalen, das (Mit-)Organisieren von Events sowie ein Buchungssystem gehören dazu. Hinzu kommt alles, was ein normaler Betrieb auch noch leisten muss, begonnen bei der Buchhaltung.
Und was macht die DMO nicht?
M.S. Am Schluss haben wir keinen direkten Einfluss aufs Angebot vor Ort. Ich kann einem Hotelier nicht sagen, dass er sein Restaurantkonzept ändern muss, und er macht das dann. Heisst: Ich kann wohl Inputs geben, aber ich kann nicht diktieren, da unsere Organisation eher in einer vermittelnden Rolle ist.
U.W. Die DMO macht genau das nicht, was Leistungsträger und Gemeinden machen.
M.S. Genau. Die touristische Infrastruktur (Bikewege, Wanderwege, Hotels, Restaurants etc.) sind nicht unsere Aufgabe.
Urs Wohler, Sie haben von der DMO zur Niesenbahn gewechselt, war denn das doch zu wenig, Anregungen und Vorschläge zu machen?
U.W. Nein, aber das ist einfach etwas anderes. Als DMO muss man informieren, sensibilisieren, motivieren, Leute überzeugen. Das braucht viel Energie, weil man nicht direkten Zugriff auf das Angebot hat. Als Leistungsträger steht man zu 100 Prozent in dieser Verantwortung, das ist der zentrale Unterschied zur DMO. Meine Energie stellte ich dieser DMO zur Verfügung, eine andere Region wäre nicht infrage gekommen; und jetzt mache ich etwas anderes.
Als Leistungsträger sind wir für unser Angebot verantwortlich, für alle Dimensionen der Qualität. Wenn jemand bei uns reklamiert, kann ich nicht sagen, sie sollen sich anderswo melden. Wir können uns nicht aus der Verantwortung schleichen. Als Destination kann man nicht den Leistungsträger beschuldigen; da muss man das Gespräch suchen und vermitteln, das ist eine ganz andere Rolle, das sind zwei verschiedene Welten.
Wie ist das Standing in der Öffentlichkeit, Stichwort: «Wenn‘s gut läuft, ist es wegen der Leistungsträger, wenn‘s schlecht läuft wegen der DMO».
U.W. Das ist so, das ist auch ein Merkmal der DMO-Arbeit. In der Wahrnehmung ist Erfolg selten ein Resultat der DMO-Arbeit, Misserfolg schon, aber mit dem muss man umgehen können. Wenn es so gut läuft wie letztes Jahr, darf man eine gewisse Gelassenheit haben und sich auch freuen, schliesslich ist das die Bestätigung, dass die Strategie stimmt.
M.S. Je besser es einem gelingt, einen guten Kontakt mit den Partnern zu haben und transparent aufzuzeigen, was man macht, desto eher ist das Verständnis da für die komplexen Zusammenhänge, und dann kann man so pauschale Urteile gut entkräften oder erklären.
U.W. Gewisse Zusammenhänge wird man immer erklären müssen. Je länger die Geschichte einer DMO ist, desto einfacher wird es. Der Idealfall ist, wenn man aus der Vergangenheit lernt. Martina ist ja nicht gekommen und hat alles auf den Kopf gestellt.
M.S. Das dünkt mich wichtig. Ich sehe das immer wieder, dass Direktorinnen und Direktoren neu kommen und zuerst alles über den Haufen werfen. Meine Strategie ist es, zuerst zu schauen, was die Vorgänger gemacht haben und weshalb. Und logisch habe ich bei gewissen Dingen eine andere Meinung, und dann mache ich das auch anders, jedoch nicht, weil ich grundsätzlich alles anders machen will. Urs hat beispielsweise beim Thema Nachhaltigkeit vorgespurt und jetzt ist unsere Destination diejenige, die einen Leitfaden für andere Destinationen herausgibt. Das war Teamwork.
Und jetzt sind die Leute dabei, spüren Sie das Vertrauen?
M.S. Ja, grossmehrheitlich schon. Tourismusdirektorin ist so etwas wie die touristische Gemeindepräsidentin einer Region, du hast deine Wählerinnen und Wähler, aber auch solche, die dich nicht gewählt haben bzw. wählen würden.
U.W. Das war bei mir auch so. Am Schluss hat es ein paar gehabt, die waren froh, als ich ging und andere fanden es schade. Oder andere haben zu Martina einen besseren Draht gefunden als zu mir.
Sie sind jetzt im Berner Oberland, was sind da die grössten Unterschiede und wie könnten die Regionen voneinander profitieren?
U.W. Der ganz grosse Unterschied ist die Internationalisierung, da haben grosse Leistungsträger auf die Strategie internationaler Gäste gesetzt.
Der zweite grosse Unterschied ist der, dass die meisten Destinationen viel näher an der Agglomeration sind, man ist schnell dort, aber auch schnell wieder weg. Dort gibt es viel mehr Tagesausflüge. Internationale Gäste und Tagesausflügler sind die grossen Unterschiede.
Gibt es jetzt vor dem Hintergrund von Corona Überlegungen, die Strategie im Berner Oberland zu ändern?
U.W. Nicht wirklich. Das Stichwort ist «Recovery», flicken, reparieren und möglichst schnell wieder zum courant normal zurück. Es gibt sicher Leistungsträger, die sich fragen, wie sie ihr Geschäftsmodell anpassen können, um das alte nicht an die Wand zu fahren, aber nach meinem Verständnis machen das zu wenige.
Als Touristikerin und Touristiker hat man immer mit Ferien zu tun, ist das ein Traumberuf?
M.S. Man hat ja nicht immer Ferien…., aber für mich ist das ein Beruf, den ich mit Leidenschaft ausübe.
U.W. Wir beschäftigen uns mit unseren 100 000 Gästen am Berg, wenn sie sich etwas gönnen, das ist ja sehr schön. Sie nehmen sich eine kurze Auszeit vom Alltag, das motiviert mich und meine rund 100 Mitarbeitenden.
War das bei Euch eine bewusste Wahl, Tourismus?
M.S. Ich war zuerst eher auf der Hotellerie-Gastronomie-Schiene und hab mich dann für ein Tourismuspraktikum in einer Destination entschieden sowie für ein Tourismusstudium. Beim Praktikum habe ich gemerkt, dass ich unbedingt in einer Destination arbeiten möchte und nicht beispielsweise bei einer Airline. Sondern vor Ort am Angebot, von dem ich überzeugt bin, mitarbeiten möchte und das mitentwickeln. Das war ein sehr bewusster Entscheid.
U.W. Ich kann nichts besonders gut, das meine ich durchaus ernst, denn als Touristiker muss man Generalist sein, und es braucht ein Gespür für die Mitarbeitenden, für die Leistungspartner, für die Gäste. «Anspruchsgruppenmanagement» ist ein Schlüsselwort.
M.S. Ja, das ist der Hauptjob der Tourismusdirektoren.
U.W. Und ich kann Dir sagen, Jürg, ohne zu übertreiben, niemand macht‘s so gut wie diese Destination. Ich bekomme einen Haufen Newsletter, aber ich kenne keine Destination, die sich so um ihre Leistungsträger gekümmert hat im vergangenen Krisenjahr wie diese Destination.
Wo machen Touristiker am liebsten Ferien?
M.S. Als ich jünger war, hat‘s mich immer möglichst weit weg gezogen…
U.W. … in die Mongolei mit dem Pferd.
M.S. Genau, jetzt bin ich auch mit dem Pferd unterwegs, aber lieber in der Schweiz. Ich bin gerne da, in der näheren Umgebung, im alpinen Raum und als halbe Österreicherin gehe ich auch gerne mal zu meinen Eltern. Aber das ganz grosse Fernweh habe ich grad nicht mehr so.
U.W. Weit weg muss man lange, dann lohnt es sich. Letztes Jahr waren wir in Stein am Rhein. Wir meinten, die Ostschweiz zu kennen, dabei ist dann jede Ecke, die man entdeckt, neu. Wir haben als Schweizer ein Riesenprivileg, so viel Vielfalt auf so kleinem Raum zu haben.
Und wo steht die DMO in zehn Jahren?
M.S. Hoffentlich immer noch auf soliden Beinen mit einer nachhaltigen Strategie, die verhebt und funktioniert. Eine DMO, die mit der Zeit gegangen ist, was auch immer diese Zeit bringt, ich weiss es heute noch nicht. Mit der Zeit gehen, ist das Wichtige und dabei den ureigenen Stärken treu bleiben, die eigene Identität stärken.
U.W. Vielleicht ist dann die Nachhaltigkeit noch stärker und schärfer positioniert. Es ist heute schon so, dass die Nationalparkregion unter Experten als nachhaltige Destination bekannt ist.
M.S. Ich glaube, das wird Standard.