Die Zukunft der Alpwirtschaft und der Klimawandel beschäftigen die Bäuer*innen Graubündens am meisten. Dies ergab eine Umfrage des Maschinenrings Graubünden vor einigen Jahren. Der Maschinenring ist eine Organisation, über welche landwirtschaftliche Betriebe maschinelle Arbeiten austauschen oder auch Betriebshelfer*innen anfordern können. Die Alpwirtschaft wurde deshalb als Punkt genannt, weil die Bedrohung durch Bär und vor allem Wolf immer stärker zunimmt, und der Klimawandel, weil sich dessen Auswirkungen auf jedem Hof zeigen – in nur noch halbvollen Heustöcken, heissen Sommern, extremen Niederschlägen oder sich ausbreitenden Schädlingen. Die Problematik Alpwirtschaft und Grossraubtiere wird durch Plantahof und kantonale sowie nationale Politik abgedeckt, also nahm sich der Maschinenring dem Thema Klima an. Dazu rief die Organisation gemeinsam mit einem Beratungsunternehmen, dem Plantahof, dem Amt für Landwirtschaft und Geoinformation, Biogrischun, dem Bündner Bauernverband, Vertreter*innen der Landwirtschaft und der Fachgruppe Klima ein Projekt ins Leben mit dem ambitionierten Titel: «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden». Zwar dürfte es laut Claudio Müller schwierig werden, auf den Höfen je Klimaneutralität zu erreichen. Wichtig ist aber laut dem Geschäftsführer des Maschinerings, dass sich die Höfe dank dem Projekt auf dem Weg dorthin nicht als Hindernis erweisen, sondern als Teil der Lösung.
Schliesslich ist die Landwirtschaft schweizweit die viertgrösste Verursacherin von Treibhausgasen, vor allem wegen der Tierhaltung, wo viel Methan anfällt. Problematisch ist auch Lachgas, welches bei der Düngung mit Stickstoff entsteht. Deshalb soll auf möglichst vielen Höfen experimentiert werden, wie sich Treibhausgase verringern lassen und wie die Landwirtschaft ihren negativen Einfluss auf das Klima reduzieren kann.
Pilotbetriebe aus der Region
Dazu hat die Projektleitung verschiedene Betriebe gesucht, die am Projekt mitmachen wollten. 120 hatten Interesse, 52 wurden schliesslich ausgewählt, aus allen Regionen Graubündens und mit verschiedenen Grössen und Betriebszweigen. Während fünf Jahren können die ausgewählten Betriebe nun Massnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen in den Bereichen Tierhaltung, Pflanzenbau und Energie ausprobieren. Dabei werden sie von Experten aus Wissenschaft und Forschung eng begleitet, um die Wirksamkeit der einzelnen Ansätze zu überprüfen. Die Landwirt*innen geniessen auch Ausbildungen zu dieser Thematik. Und alle Betriebe nehmen freiwillig daran teil.
In unserer Region sind das drei verschiedene Betriebe: Gianni Thom aus Ardez, Isidor und Monica Sepp-Canclini aus Müstair sowie Aita Puorger, Marion Schild und Samuel Hauenstein vom Hof Chavalatsch ob Scuol.
Zeitenwende auf Chavalatsch
Hauenstein, Puorger, Schild und Chavalatsch – das waren doch immer Jon und Silvia Roner, dürften sich der eine Leser oder die andere Leserin fragen. Ja, waren – denn auf Chavalatsch ob Scuol findet gerade eine Zeitenwende statt. Über 32 Jahre hat Jon Roner gemeinsam mit seiner Frau Silvia den Hof bewirtschaftet. Dabei haben sie quasi bei null angefangen. Zu Beginn waren dort am Hang ob des Spitals nur ein paar magere Wiesen und eingewachsene Allmenden, sprich Gemeindeweiden genutzt. Jon und Silvia konnten das Land übernehmen und machten es nach und nach urbar. Es kamen Flächen dazu und mittlerweile gehören rund 30 Hektaren Land zum Hof Chavalatsch, das meiste arrondiert um das Betriebsgebäude. Die Roners hielten rund ein Dutzend Grauvieh als Mutterkühe und etwa 70 Mutterschafe. Mit zunehmendem Alter und der Erkenntnis, dass es keine familieninterne Hofübergabe geben würde, begannen Silvia und Jon andere Lösungen zu suchen – und stiessen dabei zuerst auf Aita Puorger.
Die Senterin, damals in Ausbildung zur Kunstpädagogin, half vor drei Jahren auf Chavalatsch aus. Während der Zusammenarbeit und in mehreren Gesprächen entstand und reifte die Idee der Hofübernahme respektive Übergabe an Aita und ihren Freund Samuel Hauenstein. Aus der Idee wurde ein Vertrag und schlussendlich die Hofübergabe am 1. Januar 2023. In die Zeit der Übergabegespräche fiel auch die Idee von Jon Roner, als Hofübergabeteam beim Projekt der Klimaneutralen Landwirtschaft mitzumachen.
Samuel Hauenstein ist auf einem Bauernbetrieb im Lugnez aufgewachsen. Schwerpunkt dort war Gemüse. Später studierte er Agronomie an der ETH und war längere Zeit am Forschungsinstitut für Biologischen Landbau (FiBL) tätig. Gemüseanbau war ein prägendes Thema in seinem bisherigen Werdegang. Denn nach dem Studium arbeitete er bei Ortoloco in der Nähe von Zürich, einem solidarischen Landwirtschaftsprojekt. Am FiBL leitete er die Gruppe Forschung und Beratung Biogemüse. Anschliessend ans FiBL baute er auf dem Biohof Dusch in Paspels ein Gemüseabo auf. Letztes Jahr arbeitete er bereits voll auf dem Hof Chavalatsch.
Marion Schild arbeitete nach dem Studium ebenfalls am FiBL als Beraterin für Ackerbau. Es folgten zwei Jahre in der Praxis auf Bauernbetrieben und vor dem Umzug ins Engadin war sie an der Hochschule für Agrar-, Forst und Lebensmittelwissenschaften in Zollikofen als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Nachhaltigkeit tätig.
Aita Puorger absolviert gegenwärtig eine Landwirtschaftsausbildung.
Nun kultivieren die drei auf Chavalatsch Gemüse in bislang vier Tunnels oberhalb des Betriebes und von weitem sichtbar. Daneben kultivieren sie auch auf rund 50 Aren im Freien Gemüse. Das macht Sinn wegen des Vorwissens der Neo-Chavalatscher, aber auch aus klimatischen Gründen. Nicht weil der Klimawandel den Gemüseanbau in Scuol fördern würde, sondern eher im Gegenteil, um den Klimawandel mit Diversifizierung in der Landwirtschaft etwas zu verzögern, wenn nicht gar zu verhindern.
Gemüse deshalb, weil das CO2-Äquivalent im Vergleich zur Fleischproduktion wesentlich tiefer ist. Ganz auf Fleisch respektive dessen Produktion wollen sie aber trotzdem nicht verzichten. So halten sie weiterhin rund zehn Mutterkühe samt Kälbern und etwa 60 Schafe mit Lämmern. Dies auch deshalb, weil die vielen Wiesenflächen, die zum Hof gehören, nicht alle mit Gemüse bepflanzt werden können, dafür aber für Vieh und Schafe eine vorzügliche Nahrungsgrundlage bieten und gleichzeitig wertvolle Nährstoffe liefern.
Dass die Stückzahl bei den Tieren mit der Zeit aber etwas sinken wird, das können sich die drei gut vorstellen. Im Gegenzug möchten sie auf den dafür geeigneten Flächen mehr Gemüse anbauen. Im Auge haben sie dabei die kleinen, terrassierten Flächen, die vor langer, langer Zeit schon mal Äcker waren.
Nun nützt aber das schönste Gemüse nichts, wenn es nur auf dem Feld steht. Verkaufen, lautet deshalb das Stichwort. Auch diesbezüglich kann Samuel Hauenstein auf einen grossen Erfahrungsschatz zurückgreifen, sowohl bei der Kooperative Ortoloco als auch beim Biohof Dusch, wo er das Gemüseabo aufgebaut hat. Deshalb braucht er in Scuol das Rad nicht neu zu erfinden und propagiert ebenfalls ein Gemüseabo, von Mai bis Dezember. Nicht nur Privathaushalte aber sollen in den Genuss des auf fast 1400 Meter über Meer kultivierten Gemüses kommen, sondern auch Restaurants. Tatsächlich läuft die Startphase – zumindest im Verkauf der Abos – äusserst vielversprechend an. Bereits hätten mehrere Gastrobetriebe, Hotels und eine Berghütte Gemüse geordert, dazu kommen bislang über fünfzig Abos für Private. Fünf bis acht verschiedene Gemüse pro Woche enthält das Abo, je nach Grösse der Tasche von Kohlrabi und Frühlingszwiebeln über Tomaten, Auberginen bis hin zu den Herbstklassikern wie Kürbis oder Nüsslisalat. Über das Jahr gesehen kommen so über 40 verschiedene Gemüsearten in die Taschen, von den verschiedenen Sorten und Farben ganz zu schweigen.
Nebst der positiven Auswirkung für das Klima sei der Gemüseanbau auch rentabel, versichert Hauenstein und begründet dies mit der mehrmaligen Belegung samt Ernte derselben Fläche. Gibt es doch mal unverkäufliche Ware, so freut sich das Vieh darüber. Und das Klima freut sich hoffentlich dereinst über die Klimabäuer*innen aus Graubünden, auch über diejenigen aus der Region.