Gegenwärtig stellen Sie das Ortsbuch über Tarasp fertig. Zuvor haben Sie schon die Ortsbücher von Scuol, Sent und Ftan verfasst. Was fasziniert Sie an dieser Arbeit?
Die Nähe zu den Menschen und den Ereignissen und Entwicklungen. Über Friedrich den Grossen oder Napoleon gibt es schon unzählige Werke. Doch Friedrich der Grosse hat immerhin den Scuolern eine grosse Uhr geschenkt, als Dank für die zweite Auflage der Scuoler Bibel. Und Napoleon hat letztlich entschieden, dass Tarasp der Schweiz einverleibt werde.
Sie haben lange am Institut in Ftan unterrichtet und wohnen auch in Ftan. Arbeiten Sie nur deshalb in dieser Gegend oder gibt’s hier mehr Geschichte als anderswo?
Der Wohnsitz richtete sich nach dem Arbeitsplatz. Geschichte gibt es natürlich überall reichlich und auch in spannender Weise, wenn sie richtig angepackt wird. Aber ja, das Unterengadin ist durch seine Lage ein interessantes Forschungsfeld, die Kultur und auch das Bewusstsein darüber scheint mir besonders ausgeprägt. Ein grosser Teil der hiesigen Bevölkerung ist historisch interessiert.
Kann man denn die Geschichte der Dörfer auch auf einen gemeinsamen Nenner bringen?
Natürlich verbinden viele Themen die Dörfer unseres Tals, die Transitachse, die gemeinsame Abwehr gegenüber grosser österreichischer Macht, die Reformation und vieles mehr. Eine spezielle Entwicklung nahm Tarasp, was im neuen Ortsbuch ein Hauptthema ist.
Ich nehme an, dass Sie im Laufe ihrer Arbeit und Forschung verschiedene Dinge «entdeckt» haben. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Solche Funde, meist in Archiven oder Museen, sind natürlich Highlights für einen Historiker. Ich darf zunächst drei Beispiele nennen. Das Wasserzeichen «SCUOL» im Papier eines Briefes im Gemeindearchiv Ftan beweist, dass wirklich in Scuol Papier hergestellt wurde. Das Aquarell von Heinrich Keller von etwa 1826 zeigt einmalig die Situation der Schmelzra in S-charl. Das zweite Tagebuch des Institutsgründers Andrea Rosius à Porta gewährt bedeutende Einblicke in das damalige Schulwesen. Im neuen Buch «Tarasp» ist übrigens ein wunderschöner Plan von Baraigla von 1778 aus dem Museum d′Engiadina Bassa eingefügt.
Gibt es etwas, an dem Sie noch dran sind, aber es noch nicht richtig beweisen konnten? Etwas, das Sie gerne noch rausfinden möchten?
Zurzeit arbeite ich nicht konkret an einem Projekt. Herauszufinden gäbe es vieles, doch wir lassen uns überraschen.
Weshalb haben Sie sich für Geschichte entschieden?
Vom Beruf des Lehrers ausgehend fielen manche interessante Fächer wie Architektur, Archäologie oder Umweltwissenschaften weg. Geschichte fand ich sehr spannend, vor allem in Verbindung mit Geografie, denn jedes Geschehen spielt sich in einem Raum ab. Die Verbindung der beiden Fächer war mir später bei der Abfassung der Ortsbücher sehr nützlich.
Als Schulfach wird Geschichte immer stiefmütterlicher behandelt, macht Ihnen das Sorgen?
Ja, gewiss. Früher hatte sie eine eigene Note im Maturzeugnis, jetzt ist sie Teil der Sozialwissenschaften, wozu übrigens auch Geografie gehört, die dadurch grosse Teile der naturwissenschaftlichen Bereiche verloren hat.
Ich hatte einen Geschichtslehrer, der das Ganze sehr plastisch vortrug, oft aber kommt Geschichte etwas verstaubt daher. Wie liesse sich da Abhilfe schaffen?
Der frühere Geschichtsunterricht erschöpfte sich in einer chronologischen Abfolge von meist politischen Ereignissen. Es muss vermehrt Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte vermittelt werden. Ein grosses Anliegen war mir immer die Lokalgeschichte, die besonders im «Ergänzungsfach Geschichte» zum Tragen kam. Wichtig war mir stets die Einfügung des lokalen Geschehens in die grossen Zusammenhänge.
Weshalb ist Geschichte wichtig und sollte auf keinen Fall im Unterricht reduziert werden?
Geschichte legt, wie es so schön heisst, die Basis für das Verständnis der Gegenwart. Es ist somit das wichtigste Schulfach überhaupt, denn jede andere Disziplin hat eine historische Dimension (Kunstgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Geschichte der Physik etc.). Schön wäre ein vermehrtes Zusammenwirken verschiedener Fächer.
Wie unterrichtet man Geschichte objektiv und umfassend? Es liessen sich ja gut Teile und Aspekte weglassen, um der Geschichte eine andere Wendung zu geben?
Geschichte umfassend zu unterrichten ist ein Ding der Unmöglichkeit. Objektivität ist ebenfalls ein nicht zu erreichendes Ziel, das aber stets angestrebt werden muss. In meinem Unterricht habe ich stets die früheren Zeiten gekürzt, um möglichst viel Raum für die Gegenwart zu gewinnen. Mein letztes Thema als Lehrer war 2011 die Unabhängigkeit von Kosovo.
Wenn Sie nicht gerade Bücher aus dem Tal schreiben, woran arbeiten Sie sonst noch oder woran würden Sie gerne noch arbeiten?
Alle meine Arbeiten drehten sich um Graubünden. Das ist aber auch der faszinierendste Kanton. Themen gibt es unzählige, doch wir lassen uns überraschen.
Sind Sie froh, dass Sie jetzt leben oder hätten Sie lieber in einer anderen Zeit gelebt und wenn ja, in welcher?
Ich lebe hier und jetzt. Natürlich würde man als Historiker gerne eins zu eins in frühere Epochen hineinschauen und dann die vielen Fehlinterpretationen korrigieren können. Den Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 nach Christus oder das Treffen zwischen Napoleon und Zar Alexander im Jahr 1807 mitzuerleben, wäre gewiss spannend. Am liebsten wäre ich dabei gewesen, als in den 1780er-Jahren Johann Baptist Vanhal, Carl Ditters von Dittersdorf, Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart in Wien zusammen Streichquartette spielten.
Welche Chronik schreiben Sie als Nächstes?
Weder ob noch was, ist momentan klar. Schön ist es, dass man als Historiker eigentlich nie in Pension geht. Was als Nächstes kommt, ist noch völlig offen.
Zur Person
Dr. Paul Eugen Grimm ist Historiker und Geograf und ehemaliger Lehrer am Hochalpinen Institut in Ftan. Er publiziert Arbeiten, hauptsächlich zu Themen aus dem Unterengadin. Eben erscheint sein Ortsbuch «Tarasp». Im Interview geht er einigen Fragen zur Geschichte im Allgemeinen nach sowie der Faszination, die das Unterengadin ausübt.