Im Val Müstair ist die Landwirtschaft mit Nutztierhaltung nach wie vor einer der Haupterwerbszweige der Bevölkerung und der Futterertrag der Wiesen spielt dabei eine lebenswichtige Rolle. Das trockene, regenarme Klima des Tales zwang schon unsere Vorfahren, mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen den Grasertrag zu steigern und so das Überleben zu sichern. Es wurden offene Bewässerungsgräben ausgehoben, deren Spuren noch heute sichtbar sind. Diese ehemaligen Waale oder «Auals», wie sie im romanischen Sprachgebrauch genannt werden, sind heute zum Teil wieder als Zeugen der damaligen Zeit reaktiviert und instand gestellt worden, auch wegen ihrem ökologischen und touristischen Nutzen. Sie sind ein wichtiges Kulturgut und ein Beitrag für die Biodiversität.
Bewässerungssysteme von lebenswichtigem Nutzen
Die Bauern bezogen das Wasser aus den umliegenden Gewässern. Aus den Bergbächen, die tosend zu Tale stürzten, und aus dem Haupttalfluss, dem Rombach, wurde das kostbare Gut umgeleitet. Dazu mussten in mühseliger Arbeit zahlreiche Gräben entlang und durch die Wiesen kunstvoll angelegt und ausgehoben werden. Nicht selten gab es um die Wassernutzung und -rechte auch Streitigkeiten, welche gerichtlich geregelt werden mussten. So zum Beispiel geschehen mit dem Avinga-Wasser, welches die Klosterwiesen in Müstair und die Wiesen im benachbarten Taufers bewässern sollte. In einem Rechtsstreit um 1463 wurde geregelt, dass das Avinga-Wasser zu einem Drittel dem Kloster Müstair und zu zwei Dritteln Taufers zugesprochen wurde. Aus weiteren Aufzeichnungen geht jedoch hervor, dass es auch später immer wieder zu Diskussionen, Betrügereien und gar Gewalttätigkeiten um die Nutzung des Avinga-Wassers kam und neue gerichtliche Entscheide notwendig waren. Diese Begebenheiten zeigen, wie überlebenswichtig die Wassernutzung zur Flurbewässerung für die Bauern war.
Wiesenbewässerung um 1910
Eine nutzenbringende Wiesenbewässerung setzte sehr viel Wissen, Erfahrung und Fingerspitzengefühl voraus. Davon wusste schon Emil Roussette 1910 zu berichten, wenn er in einem Artikel über die Bewässerung der Wiesen im Volkswirtschaftlichen Blatt, Organ des graubündnerischen landwirtschaftlichen Vereins schrieb: «Tatsache ist, dass in trockenen Jahren eine mit der nötigen Vorsicht ausgeführte Bewässerung auf das Wachstum des Grases, besonders des Emdgrases, günstig einwirkt.» Er empfahl daher, bei Hitze und intensivem Sonnenschein die Wiesen nicht mit eiskaltem Wasser zu übergiessen, denn der Temperaturunterschied zwischen Luft und Wasser wirkt sich schädlich auf die zarten Pflanzen aus. Bei steilen Hängen musste sehr sachte vorgegangen werden, um ein gleichmässiges Überfliessen zu erreichen. Es war wichtig, die Verteilungsgräben ausgeglichen anzulegen, damit Dünger und Humus nicht in den unteren Teil der Wiesen geschwemmt wurden. Ein langer und ebener Zuleitungsgraben war besser, denn in einem solchen Graben konnte sich das Wasser erwärmen und die Temperatur zwischen Wasser und Luft etwas ausgleichen.
Neuzeit
Das ehemalige Flurbewässerungssystem hat durch die Gesamtmelioration, die maschinelle Bewirtschaftung und die fest installierten Sprinkleranlagen an Bedeutung für die Landwirtschaft verloren. Das Interesse an der Wiederaufnahme der traditionellen Wiesenbewässerung nimmt jedoch zu, nicht zuletzt auch wegen des Klimawandels, der einen Rückgang der Gletscher als Wasserreservoire zur Folge hat. Beregnungsanlagen haben zudem den Nachteil, dass sie das Landschaftsbild stören, den Verbrauch des kostbaren Wassers erhöhen und hohe Kosten verursachen. «Auals» sind auch für den Tourismus attraktiv. Wanderungen entlang der reaktivierten Wassergräben haben sich wegen ihrer Beschaulichkeit und der zu entdeckenden Artenvielfalt zu einem beliebten touristischen Angebot entwickelt.
Die Lebensadern der Wiesen
Fast wie angeschwollene Halsschlagadern ziehen sie sich über die Wiese Lads in Ramosch – die ehemaligen Bewässerungskanäle. Tatsächlich waren sie einst auch eine Art Blutadern, versorgten sie doch die Rasenflächen mit wertvollem Wasser, Mineralien und Dünger. Nun hat die Stiftung Pro Terra Engiadina das Buch «La sauaziun da Ramosch e Tschlin», «Bewässerung im Unterengadin» herausgegeben. Geschrieben hat es der Historiker Paul Eugen Grimm, detailreich und mit vielen Fakten und geschichtlichen Ausführungen, ein Lehrstück.
Denn, dies ist eine der ersten Erkenntnisse des Buches, Bewässern tat schon immer Not im Engadin. Schliesslich liegt die durchschnittliche Niederschlagsmenge pro Jahr bei rund 700 mm oder eben 700 Litern pro Quadratmeter. Demgegenüber regnet es in Zürich etwa 1000 Liter pro Jahr. Nur noch das Wallis ist niederschlagsarmer, in Stalden im Vispertal beträgt die jährliche Regenmenge etwa 550 Liter.
Schreibt ein Historiker ein Buch über die Bewässerung, liegt auf der Hand, dass dies keine Erfindung der Neuzeit ist – im Gegenteil. Die ersten urkundlichen Erwähnungen datieren von 1249. Damals bestätigte Papst Innozenz dem Kloster Marienberg in Schleis bei Mals alle Rechte, auch dasjenige des Heranführens von Wasser. Dies ist insofern interessant, weil das Kloster bei Chaflur einen Hof besass und demnach bereits 1249 bewässerte. Die ältesten, noch vollständig vorhandenen Gesetze datieren von 1575 und stammen aus Zernez. Tatsächlich war die Bewässerung, gerade weil sie so wichtig war und das Wasser alles in allem trotzdem knapp, streng reglementiert.
Reglemente und Kontrollen
Zuständig für deren Einhaltung waren die Cuvis oder Gemeindepräsidenten, welche auch grad die Bussen eintreiben und einstecken konnten. Für die Kontrolle der Kanäle und Leitungen waren die «aualers» zuständig. Die Kontrollen waren wichtig, schliesslich waren die Kanäle die Lebensadern der Wiesen. Es durften nur Wiesen bewässert werden, keine Äcker. Bis ins Jahre 1500 spielte der Getreideanbau die wichtigere Rolle als die Viehzucht, deshalb war die Bewässerung bis dahin nicht so ausgeprägt. Ab 1500 aber veränderte sich die Landwirtschaft hin zu vermehrter Viehzucht mit Käseproduktion und Viehhandel mit Italien. Und weil die Kühe nun mal primär Gras und Heu fressen, wurde die Kultivierung und sorgfältige Bewirtschaftung der Grünflächen wichtiger und die grosse Anlage der Bewässerungskanäle begann.
Verästelte Verteilung
Am Anfang stand da der Hauptzufluss, in Ramosch beispielsweise aus dem Moorgebiet Palü Lunga. Der Hauptzufluss strömte in den Aual Runz als Zuleitung und von dort dann in die Auals Pitschen zur Verteilung über die Wiesen. Die kleineren Kanäle mussten 45 Zentimeter breit sein und immer sauber ausgeräumt. Der früheste Beginn der Bewässerung war vorgeschrieben und datierte meist um Mitte April. Zuvor hatten die Bauern oft im Gemeinwerk die Kanäle wieder instand zu stellen und sauber auszuräumen, damit das Wasser ungehindert durchfliessen konnte. Bei Starkregen platzierten sie grosse Steine im Kanal, um die Kraft des Wassers zu brechen.
Für das effektive Bewässern erhielt jeder Bauer ein Zeitfenster, währenddem er das Wasser über seine Wiesen rieseln lassen konnte. Dazu staute er die Auals pitschen mit runden Schaufeln fortlaufend, sodass sich das Wasser über die Wiesen ergiessen konnte. Oft wurde dem Wasser auch grad Mist beigemischt, wodurch die Wiesen dann auch noch gedüngt wurden. Die Bewässerungstermine wollte niemand verpassen, deshalb geht die Legende, dass ein Bauer in Lavin lieber auf die Hochzeit seiner Tochter als aufs Bewässern verzichtete.
Bis zum Ersten Weltkrieg war dieses Bewässerungssystem omnipräsent, danach aber kam die Baisse. Während des Krieges fehlte das Personal für diese intensive Tätigkeit, 1918 folgte die Klauenseuche, verbunden mit grossen finanziellen Verlusten, was die Bewässerung in den Hintergrund rücken liess, die Bewässerungskanäle verschwanden. Als letztes Dorf gab Zernez 1965 die organisierte Grabenbewässerung auf. In Lavin allerdings versorgte noch bis in dieses Jahrtausend eine Zuleitung aus dem Lavinuoz-Bach, bestehend aus ausgehobenen Gräben und gezimmerten Holzkanälen, die Bewässerung des Gebietes Crusch. Verteilt wurde das Wasser aber auch dort mit Röhren und Schläuchen zu den auf den Wiesen platzierten und immer wieder verschobenen Sprinklern oder moderner Rollen.
Restaurierung der alten Kanäle
So ist das auch in Ramosch und Tschlin, allerdings hat man sich dort 2014 an die frühen Bewässerungen erinnert und das Projekt «Historische und landschaftsökologische Aspekte einer Hangbrieselungslandschaft in der Gemeinde Valsot» gestartet. Dabei ging es auch darum, alte Wasserkanäle und -gräben zu restaurieren und wieder in Betrieb zu nehmen. So liess sich die fast vergessene Technik und viele Geschichten dazu in die heutige Zeit retten und anschaulich erklären.
A propos erklären: Nicht ganz genau gesichert ist, weshalb die Kanäle tatsächlich wie Adern vorstehen. Liegt es daran, dass das ausgegrabene Material jeweils an den Seiten der Wasserläufe deponiert wurde und das Ganze so in die Höhe wuchs? Senkte sich einfach das Wiesland, während die Kanäle ihre ursprüngliche Höhe behielten, oder hat es etwas mit der Ausbettung der Kanäle durch die mitgeführten Mineralien zu tun? Erklärungen, Anregungen oder weitere Ideen oder Ansätze werden gerne angenommen.