Es begab sich kurz nach der Weihnachtszeit, genauer gesagt am 4. Januar. Das Cinema Staziun zeigte einen Dokumentarfilm über das Wirken der Heilsarmee in Zürich. Wieder zu Hause in Lavin bemerkte ein Zuschauer, dass ihm sein Mobiltelefon fehlte. Darauf machte er sich erneut auf den Weg ins Kino, dieses zu suchen, jedoch erfolglos. Dafür drangen ihm und dem Wirt des Bistro Staziun ein verzweifeltes «aiuto, aiuto» ans Ohr. Als Urheber des Hilferufs erwies sich ein junger Italiener. Atemlos und aufgeregt erklärte er, dass er unbedingt nachts um drei Uhr in Chur sein müsse, weil da sein Flixbus nach Rimini abfahre, er aber in Sagliains falsch umgestiegen sei und deshalb nun in Lavin gestrandet. Die Bahnhofsuhr zeigte bereits nach elf Uhr nachts, der letzte Zug war abgefahren und des Italieners Chancen, doch noch nach Chur zu kommen, tendierten gegen Null. Allein, der Kinogast, beseelt noch von der eben gezeigten Wohltätigkeit der Heilsarmee, fasste sich ein Herz und beschloss, den späten Gast mit dem Auto durch den Vereinatunnel nach Chur zu bringen, und anschliessend über den Julier wieder heimzufahren. Da die Wetterprognose intensiven Schneefall meldete, revidierte er aber beim Anstehen am Vereina sehr bald seinen Plan und bot dem Gast ein Bett im eigenen Hause an. Weil sie schon etwas geplaudert hatten, wusste der Laviner, dass der Italiener Bäcker, Pizzaiolo und Gitarrist war. Der Zufall wollte es, dass der lokale Bäcker just vor ein paar Tagen via Post in den sozialen Medien einen Mitarbeiter gesucht hatte. Also brachte der Laviner die beiden am nächsten Tag zusammen.
Jetzt wohnt Eugenio de Santis, so heisst der junge Mann aus Rimini, in Lavin, bäckt Brot und jeweils dienstags und freitags Pizza im wieder aktivierten Backhaus. Aber wieso möchte jemand, der in einer pulsierenden Ferienmetropole gross geworden ist, in einem doch eher ruhigen Ort wohnen? Genau deshalb, antwortet Eugenio. Ihm gefällt gerade, dass es in Lavin eher ruhig ist und natürlich hat ihn auch die Gastfreundschaft der Leute beeindruckt, nicht nur an jenem Abend am Bahnhof. Tatsächlich merkt sofort, wer den Pizzaiolo bei seiner Arbeit sieht, dass er voll in seinem Element ist. Auch das habe ihm in den vergangenen Jahren in Italien gefehlt, ob er nun in Rimini oder auch in San Marino arbeitete, der Beruf des Pizzabäckers geniesse kein sehr hohes Ansehen mehr und heute seien dafür vor allem ungelernte Arbeitskräfte am Werk.
Passion für Pizza
Doch für Eugenio ist Pizza respektive deren Teig Passion. Gefragt nach dem Geheimnis des guten Pizzateigs, beginnen seine Augen zu funkeln und er setzt zu einem kleinen Referat über die Geheimnisse der idealen Ausgangsform an. Klar sei, dass der Teig aus den vier Zutaten Mehl, Hefe, Olivenöl und Wasser bestehe. Doch schon beim Wasser fange es an, dasjenige in Italien sei chloriert und reagiere folglich ganz anders mit dem Teig, als das fast kalk- und sowieso chlorfreie Laviner Wasser. Die Hefe gehe im Winter oder im Sommer anders auf, und wegen der tiefen Luftfeuchtigkeit müsse die Masse mehr befeuchtet werden als in Rimini. Überhaupt sei alles ein Organismus und der Teig ein kleines Lebewesen, dem es Sorge zu tragen gelte, kommt Eugenio in Fahrt und erzählt fast schon zärtlich über sein Arbeitsmittel. Gleichzeitig erläutert er noch die regionalen Unterschiede bei den italienischen Pizzateigen. Selbstverständlich macht er auch Pinsa, behandelt diese Masse zärtlich, stundenlang und sorgfältig, das Resultat ist ein luftiger Boden. Auch Focaccia kann er zubereiten, wie auch weitere leckere italienische Spezialitäten.
Und da war doch noch etwas mit der Gitarre: Die hat er mittlerweile in die Ecke gestellt und durch den Computer ersetzt. Denn Eugenio vertieft sich gerade in die Produktion von elektronischer Musik, also Disco. Wer weiss, vielleicht auch bald in Lavin.
Und nebst der Pizza hat er noch mehr Rimini nach Lavin geholt. So arbeitet seit einiger Zeit auf seine Empfehlung sein Kollege als Koch im Hotel Piz Linard. Er war schon auf vielen verschiedenen Gebieten tätig, unter anderem auch als Winzer und Kelterer. Und – Überraschung – auch ihm gefällt Lavin, weil es ruhig ist. Gut für Lavin – ein Verlust für Rimini…
Und übrigens, das Handy – es lag ganz einfach zu Hause in der Wohnung.