Wer kennt sie nicht, die historischen Schwarzweissfotos aus den Städten mit unbefestigten Strassen, Pferdekutschen und Tante-Emma-Läden. Daneben farbige Fotos von heute, mit Einkaufszentren und Parkplätzen voller SUVs, aufgenommen am selben Ort. Sie zeigen die gewaltigen Veränderungen der letzten Jahrzehnte beinahe schmerzhaft auf. Im Schweizerischen Nationalpark (SNP) sehen solche Fotovergleiche komplett anders aus. Über Jahrhunderte hinweg prägten Alpwirtschaft, Bergbau und grossflächige Abholzungen die Landschaft des Ofenpassgebietes. Seit der Gründung des Parks im Jahr 1914 jedoch stehen Tiere, Pflanzen und Prozesse unter strengem Schutz, und die Natur kann sich frei entwickeln. Bereits die Gründer des Parks hatten die Vision, dass diese Gebiete dank des Totalschutzes allmählich wieder zur Wildnis werden.
56 Bildpaare …
Genau diese Entwicklung hin zu mehr «Wildnis» erzählt der SNP in der neuen Sonderausstellung: Parkpioniere, Forschende, Reisende, Berufsfotografen oder Parkwächter – sie alle haben einen fantastischen Fundus an Fotografien in der über hundertjährigen Parkgeschichte hinterlassen. 56 dieser Aufnahmen haben wir ausgewählt und in den letzten zwei Jahren an den exakt gleichen Standorten nachfotografiert.
... mit spannenden Geschichten dazwischen
Solche Fotovergleiche haben Sie sicher selten gesehen: Beispielsweise das Foto eines temporären Sees direkt neben der Ofenpassstrasse nahe Buffalora. Daneben das Bild des ruhig fliessenden Fuornbaches. Der See entstand, als ein Starkniederschlag 2018 einen Murgang auslöste, der das Wasser aufstaute. Hier zeigt sich die Natur wild und dynamisch. Oder die Aufnahme der ehemaligen Alp Murter oberhalb der Chamanna Cluozza: Vor der Parkgründung weideten dort Rinder, und Bergamasker Hirten liessen ihre Schafe grasen. Zur Zeit der Parkgründung stand noch ein kleines Steingebäude, das heute zunehmend zerfällt. Eindrücklich ist, wie deutlich die Spuren der Überdüngung durch das Vieh auch nach 111 Jahren Totalschutz noch in der Vegetation sichtbar sind. Und wie steht es mit der Waldgrenze? Ist sie im SNP in den letzten Jahrzehnten, verursacht durch den Klimawandel, ebenfalls angestiegen? Die Fotos geben Antwort.
Analog und digital
Die Ausstellung präsentiert 14 grossformatige Bildpaare zu den Themen Panoramen, Wald, Wiesen, Wasser, Extremstandorte, Bauten und Mensch. Zusätzlich können alle 56 Fotopaare auf drei grossen Bildschirmen miteinander verglichen werden. Es macht Spass, in die deckungsgleichen Bilder hineinzuzoomen, verschiedene Vergleichswerkzeuge auszuprobieren und Unterschiede zu entdecken.
Finde die Unterschiede
Die Fotopaare animieren förmlich zum Vergleichen. Während manche Veränderungen sofort sichtbar sind, bleiben andere aufgrund der langsamen Veränderungen diskret oder beinahe «unsichtbar». Fragen und Hinweise fordern spielerisch dazu auf, den Blick auf bestimmte Landschaftselemente zu lenken. Dabei wecken sie die Neugier und regen zum Nachdenken über die Ursachen der Veränderungen an. Ob Sie mit Ihren Vermutungen richtig liegen?
Exponate, Illustrationen und Animationen
Seit 111 Jahren wird im SNP beobachtet, dokumentiert und erforscht, wie die Natur ohne Einfluss des Menschen funktioniert und sich verändert. Packende Geschichten aus der Forschung sowie sorgfältig ausgewählte Exponate, Illustrationen und Animationen geben faszinierende und überraschende Einblicke, was sich zwischen den zwei Bildern abgespielt hat. Auch die Kuratorin der Sonderausstellung hat durch das genaue Betrachten der Bilder und durch weitere Nachforschungen neue Entdeckungen gemacht. Etwa, dass die zur Zeit der Parkgründung wilde und ungestaute Spölschlucht auch Otterschlucht genannt wurde. Ein Hinweis auf das damalige Vorkommen des Fischotters, der im Laufe des 20. Jahrhunderts aus dem Spöl verschwand und erst vor wenigen Jahren wieder zurückkehrte.
immer wilder?
Die Wasserkraftnutzung am Spöl ist nur ein Beispiel dafür, dass der SNP keine Insel ist, sondern von gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen sowie der Politik beeinflusst wird. Die Ausstellung zeigt deshalb auch Bilder, die den Verkehr und den Klimawandel thematisieren und somit die Grenzen von Wildnis aufzeigen. Die wilden und teilweise auch etwas weniger wilden Bildpaare erinnern uns daran, wie stark die Natur ist, wie viel Zeit die natürliche Entwicklung hin zu mehr Wildnis jedoch braucht und welch einzigartigen Naturschatz wir bei uns im Tal haben. Die Nationalparkverantwortlichen laden Sie herzlich ein, die beeindruckenden Fotopaare mit eigenen Augen zu entdecken.
Weitere Informationen: nationalpark.ch/111Jahre