Die Felsstürze am Piz Lischana, Piz Cotschen und Piz Linard waren die letzten grossen, wo und wann findet der nächste statt?
Gute Frage, die man so aber nicht beantworten kann. Denn Felsstürze lassen sich in den seltensten Fällen prognostizieren. Beim Felssturz am Piz Cengalo im Bergell hingegen, liess sich das einigermassen voraussagen, weil es da vorher schon Bewegungen und Ereignisse gab.
Sicher kann man nur sagen, dass sowohl am Piz Linard wie auch am Piz Lischana wieder «etwas kommen» wird, denn mittlerweile weiss man, wie diese Berge funktionieren. Allerdings kann man nicht sagen, wann etwas kommt. Das wäre reines Kaffeesatzlesen.
Kündigen sich denn Felsstürze an?
In gewisser Weise schon, ja. Meist gehen dem grossen Ereignis kleine Steinschläge voraus.
Und wieso gibt es überhaupt solche Ereignisse?
Das hängt einerseits mit dem Gestein zusammen. Der Lischana beispielsweise besteht aus Dolomit, das ist ein sprödes Gestein, welches zu Abbrüchen neigt. Der Linard ist aus dem an sich harten Gneis und Amphibolit, trotzdem gibt es auch dort Abbrüche. Denn der Fels wird immer von sogenannten Klüften, also kleinen oder grösseren Rissen durchzogen. Diese sind oft mit Wasser gefüllt, das aufgrund des Permafrostes gefroren ist. Bricht nun ein Stück Fels ab, steigt die Sonneneinstrahlung auf die darunterliegenden Risse, das Eis schmilzt und die Felsen können in der Folge abbrechen.
Es kann aber auch sein, dass die Felsen abbrechen, weil Regen- oder Schmelzwasser in die Klüfte sickert, dieses gefriert und das sich ausdehnende Eis den Fels wegsprengt.
Doch die Klüfte können auch ein Mosaik bilden, das in sich hält, vergleichbar mit einer Scheiterbeige. Zieht man aber am falschen Scheit, fällt der ganze Haufen zusammen, so kann das auch beim Berg passieren.
Wie entstehen die Risse in den Bergen?
Dies hat mit einer Über- oder Unterbelastung des Felsen zu tun. Klüfte können tektonisch entstehen, d.h. durch spröde Deformation während der Alpenfaltung. Häufig entstanden Risse aber auch als Folge der Vergletscherung der Täler. Die enorme Überlast der Talgletscher baute im darunterliegenden Fels hohe Spannungen auf. Die Gletscher haben sich nach den Eiszeiten zurückgezogen, aber die Felsen konnten sich von der Überlast teilweise noch nicht vollständig entspannen. Im Zuge des Entspannens bilden sich dann diese Risse in den Felsen. Das sind spröde Risse, die oft parallel zum Tal verlaufen. Diese können noch lange stabil sein, weil sie günstig ineinander verkeilt sind. Durch Starkregen kann sich dieses labile Gleichgewicht aber lösen, was dann in einen grösseren oder kleineren Bergsturz mündet.
Schliesslich gibt es kaum einen Tag, an dem man nicht irgendwo Steine runterfallen hört.
Ein Felssturz kommt immer von innen?
Nicht unbedingt, es können auch äussere Faktoren sein, die ein solches Ereignis begünstigen.
Zum Beispiel?
Im blödsten Fall kann eine Gemse einen kleinen Steinschlag auslösen, der wiederum die darunterliegenden Schichten umsortiert und so zu einem grösseren Ereignis führen kann. Gleiches gilt auch für Menschen im Gebirge. Weitere Auslöser können Frost, Wetter und Wind sein.
Das heisst, Berge sind gar nicht so beständig wie man meint?
Nein, überhaupt nicht, irgendwann sind unsere Alpen fort. Denn die Berge tragen sich laufend ab. Das haben sie schon währen der Alpenfaltung getan, sonst wären sie 2'000 Meter höher und das Mittelland läge tiefer.
Weshalb?
Das Mittelland ist quasi gefüllt mit dem Abfall der Alpenbildung, Molasse heisst dies in der Fachsprache. Umgangssprachlich sind diese Ablagerungen eher als Nagelfluh oder Sandsteine bekannt.
Und bis wann sind die Alpen weg?
Das dauert noch lange, vielleicht ein paar Millionen Jahre, denn aktuell ist die Erosion verhältnismässig klein. Dies vor allem, weil es seit der letzten Eiszeit keine Grossgletscher mehr hat, welche Täler aushölen und die Berge abraspeln, und auch die Flüsse sind nicht mehr gross wie während der Hauptrückzugsphase der Talgletscher. Damals war der Inn zum Beispiel so breit wie das ganze Tal.
Gibt es denn heute mehr Felsstürze als früher und wenn, weshalb, und haben diese mit der Klimaveränderung zu tun?
Ich als Wissenschaftler versuche die Felsstürze so wenig wie möglich zu werten. Ich beobachte hauptsächlich und frage mich nicht primär, ob das direkt mit der Klimaveränderung zusammenhängt.
Wieso nicht?
Weil man rein subjektiv zwar sagen würde, es gibt heute eine Häufung. Aber ich führe das auch auf das mediale Verhalten unserer Gesellschaft zurück. Wohl können die Medien nichts für eine allfällige Häufung, doch ist die Berichterstattung über solche Ereignisse enorm viel dichter geworden, weshalb man das Gefühl hat, es passiere mehr. Früher wurde in den Medien nicht jede kleinste Überschwemmung breitgeschlagen und man hat dadurch auch viel weniger erfahren – vor allem was weltweite Ereignisse betrifft.
Allerdings gibt es tatsächlich Zeiten, wo solche Ereignisse konzentrierter auftreten.
Wieso das?
Nehmen wir das Beispiel Val S-charl, wo die Strasse mittlerweile fast schon wöchentlich einmal geschlossen ist. Das dem so ist, hängt mit den neuen, offenen Wunden in Geröllhalden zusammen.
Nämlich?
Diese waren über lange Zeit eingewachsen und einigermassen stabil, also mit Humus und Pflanzen bedeckt. Durch Extremniederschläge ist es dort aber zu Murgängen gekommen, welche die Schutzschicht weggerissen und darin tiefe Narben hinterlassen haben. Deshalb genügen mittlerweile kleinere Gewitter um die Wunden noch tiefer aufzureissen und das Geröll in Bewegung zu bringen.
Hört das denn wieder mal auf?
Das ist durchaus möglich. Dafür verantwortlich sind einerseits die Reserven an Geröll und andererseits die Neigung der Lockergesteinsablagerungen. Der natürliche Schüttungswinkel gibt an, wie steil eine Geröllhalde noch stabil sein kann. Liegt der Winkel unter einem gewissen Steilheitsgrad, löst sich das Geröll nicht mehr spontan, wobei dieser Winkel durch Sättigung des Gerölls mit Wasser drastisch abnimmt. Das ist wie im Winter bei den Lawinenhängen. Liegt die Hangneigung unter 30 Grad wird sich dort fast nie eine Lawine lösen.
Bleibt das Geröll also längere Zeit liegen, kann sich darauf nach und nach wieder Humus absetzen und eine Vegetationsschicht, was dann das Ganze wieder zusammenhält.
Die andere Möglichkeit ist, wenn das Geröll bis auf den Felsen abgetragen ist, da rutscht nachher auch nichts mehr nach und die Vegetationsschicht kann sich aufbauen.
Allerdings können diese Prozesse Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauern.
Aus diesem Grund ist auch die berüchtigte "Boda da Planta" zwischen Motta Naluns und dem Clozza-Bach nicht mehr so aktiv. Diese Rüfe ist teilweise bis auf den Fels ausgeräumt und langsam bildet sich wieder eine schützende Vegetationsschicht.
Dann ist die Gefahr von Felsstürzen nicht gestiegen?
Ich denke nicht, die Wahrnehmung hat sich aber verändert. Zudem tummeln sich immer mehr Leute in den Bergen, auch bei schlechtem Wetter.
Dadurch steigt nicht die Gefahr, dass ein Ereignis passiert, sondern das Risiko. Will heissen, die Gefahr, dass ein Fels abbricht, ist nicht bedeutend grösser wie früher. Das Risiko, dass dieser aber jemanden trifft, ist aber grösser, weil eben mehr Leute unterwegs sind. Genau gleich verhält es sich bei den Strassen: Mehr Verkehr bedeutet ein erhöhtes Risiko bei gleichbleibender Gefahr.
Extreme Wetterereignisse wie Starkregen können aber Felsstürze schon begünstigen, weil dann mehr Wasser in die Felsen eindringt und sich dadurch die innere Stabilität verringern kann.
Und die Ereignisse bekommen mehr Aufmerksamkeit?
Auf jeden Fall ja. Hätte z.B. die Geologin die zufällig genau zum richtigen Zeitpunkt am Piz Lischana war, den Felssturz nicht gefilmt, bin ich nicht sicher, ob er überhaupt bemerkt worden wäre. Denn weil der Fels spröde ist, hat es ihn beim runterstürzen regelrecht pulverisiert, die grössten Stücke waren lediglich noch einen halben Meter im Durchmesser.
Beim Piz Linard Pitschen hat es sich ähnlich verhalten. Wäre die Staubwolke durch den Nordwind nicht bis Lavin gedrungen, hätten vom Absturz anfangs höchstens die Hirte und vielleicht ein paar Wanderer Kenntnis genommen, oder man hätte Tags darauf anhand der frischen Sturzblöcke im Talboden einen grösseren Felssturz vermutet.
Beim Piz Cengalo hat bereits sechs Jahre vor dem bekannten Ereignis ein erster grösserer Absturz stattgefunden. Weil dieser aber keine Murgänge auslöste und die Ablagerungen weitgehend im Gletschergebiet liegen blieben, wurde das Ereignis anfangs kaum publik.
Gibt es denn in unserer Region Gebiete, in die Sie nicht gehen würden, weil sie zu gefährlich sind?
Nein. Kommt dazu, dass es, wenn es solche gäbe und dort Wege durchführten, ich die bei den betreffenden Instanzen melden und eine Sperrung veranlassen würde.
Allerdings würde ich bei Starkregen nicht in die Val Clozza oder in die Clemgiaschlucht wandern. Bei normalen Verhältnissen aber, gehe ich überall hin. Wichtig ist es, die Sinne wach zu halten und die Landschaft zu beobachten und abzuhören.
Aber Bergstürze können immer passieren?
Ja, da gibt es keine totale Sicherheit. Wollte man diese auf den Strassen, müsste man überall Tunnels und Galerien bauen. Allerdings passieren in Tunnels im Schnitt mehr Unfälle als auf Bergstrassen. Ein Restrisiko besteht also immer und überall. Die Erwartung in der Gesellschaft geht aber dorthin, dieses immer mehr zu minimieren, was jedoch teilweise sehr schwierig ist.
Haben Sie als Geologe eine Lieblingswanderung?
Ja, diejenige in der Clemgiaschlucht. Dort sieht man den geologischen Übergang vom Engadiner Fenster bis zu den umgebenden "afrikanischen" Ostalpinen Decken.
Definitionsklärung: Bergsturz, Felssturz etc.
Sturzprozesse werden üblicherweise nach Volumen und Komponentengrösse in vier Kategorien unterteilt:
- Stein- und Blockschlag werden durch das plötzliche Abstürzen von einzelnen Steinen und Blöcken charakterisiert. Diese können sich direkt aus einer Felswand ablösen (primäre Quelle) oder aus einem Hang, z.B. einer Schutthalde, mobilisiert werden (sekundäre Quelle). Beim Steinschlag sind die Sturzkomponenten kleiner als beim Blockschlag.
- Bei Fels- und Bergstürzen löst sich eine grössere mehr oder weniger kompakte Felsmasse «en bloc» aus der Felswand. Während des Sturzes oder beim Aufprall wird sie in Blöcke und Steine zerteilt. Bergstürze unterscheiden sich von Felsstürzen durch das noch grössere Sturzvolumen, höhere Geschwindigkeiten und flachere Ablagerungen, wobei der Transportmechanismus durch eine starke Wechselwirkung zwischen den Komponenten gekennzeichnet ist.