Kurze Geschichte des Obstanbaus
Bereits in prähistorischer Zeit war Wildobst als Nahrungsmittel bedeutend. Der Apfel ist schon seit etwa 10'000 Jahren in seiner Heimat, in Zentral- und Westasien bekannt. Vor allem die natürlichen Apfelbaumwälder in Kasachstan sind ein wichtiger Ursprungsort einer Wildform des Kulturapfels. Entlang der grossen Handelsstrassen begann der Apfel seine Reise nach Europa. Mit den Römern gelangten vermutlich die ersten gezüchteten Apfel- und andere Obstsorten zu uns ins Engadin.
Die Schweiz war Ende des 19. Jahrhunderts eine bekannte Obstregion Mitteleuropas. Um 1950 zählte man in der Schweiz fast 15 Millionen Hochstammobstbäume. Heute wird diese Zahl auf 2,3 Millionen geschätzt. Eingebüsst hat auch die Sortenvielfalt, die um 1900 noch bei über 3'000 Sorten lag. Heute sind nur noch etwa 2'000 Obstsorten bekannt, wobei der grösste Teil nur noch sehr selten vorkommt. In der Intensivproduktion werden pro Obstart meistens nur 10 verschiedene Sorten, überwiegend auf Niederstammbäumen angebaut. Am häufigsten angebaut wird der Apfel, gefolgt von Birne, Kirsche und Zwetschge.
Obst in einem inneralpinen Trockental wie dem Unterengadin
Würden im Rahmen einer Umfrage Schätzungen abgegeben werden sollen, wie viele Obstbäume, darunter Hochstammobstbäume, aber auch Halb- und Niederstamm oder Spalier- und Buschförmige im Unterengadin zu finden sind, würden sich wahrscheinlich viele verschätzen. Uns ging es auch so. Das Unterengadin ist eine Pilotregion in einem alpenweiten Förderprojekt für Hochstammobstbäume (Alpine Space Projekt LUIGI). Ein Ziel ist die Erfassung der Anzahl Sorten und die Vernetzung der Obstbäume als sogenannte ökologische Infrastruktur. Seit 2020 wurden dafür von Martina bis Zernez 5’452 Obstbäume kartiert. Von diesen sind 1'819 Hochstammobstbäume. Gut 700 davon sind in den letzten 15 Jahren gepflanzt worden. Ökologisch sehr wertvoll sind die fast 600 älteren Bäume. Einerseits sind sie für viele Arten wie Honigbienen, Wildbienen, Vögel und Kleinsäuger wichtige Lebensräume. Andererseits sind sie wegen ihrer Sortenvielfalt sehr wertvoll. Die Obstbäume prägen die Landschaft das ganze Jahr. Im Frühjahr mit ihrer Blüte, im Sommer und Herbst mit den Früchten und im Winter fallen sie aufgrund ihrer imposanten Gestalt auf, die durch das Fehlen der Blätter noch viel stärker hervortritt.
Von den bisher kartierten Obstbäumen sind 2'354 Apfelbäume. Einigen konnte die Sorte zugeordnet werden. Ein Grossteil dieser Apfelbäume verhüllt jedoch noch das Geheimnis seines Sortennamens. Als zweithäufigstes Obstgehölz treten 1'000 Zwetschgen- und Mirabellenbäume in verschiedenen Sorten und Ausprägungen auf. Die über 900 Kirschbäume sind grösstenteils der Süsskirsche zuzuordnen. Birnbäume wurden an 363 Standorten kartiert, und sogar 280 Aprikosen- und knapp 50 Pfirsichbäume wachsen im Unterengadin. Seltener sind Quitten- (34) und Walnussbäume (62), einzelne Mispel- und Maulbeerbäume runden die Vielfalt ab. Bei den Aufnahmen wurden zudem 147 Weinstöcke angetroffen. All dies zeigt die Vielfalt der Früchte, die im Unterengadin gedeihen. Von den sonst eher in südlichen Gebieten angebauten Arten können nicht jedes Jahr, aber immer wieder köstliche Früchte geerntet werden. Erfolgversprechender sind die nicht so anspruchsvollen Obstarten wie Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Mirabellen und Kirschen.
Der Geschmack und die Intensität sind aufgrund der Lage von einer ganz besonderen Qualität. Deshalb beschäftigen sich im genannten Projekt verschiedene Expertinnen und Experten mit der Entwicklung eines speziellen Obstprodukts. Dazu wird dieses Jahr mit an diesem Thema interessierten Personen eine Veranstaltung stattfinden.
Besondere Lage und spezielle Sorten
Im Unterengadin wie auch im Val Müstair werden aufgrund der speziellen Lage im Dreiländereck spezielle Obstsorten vermutet. Die schon angesprochene Verteilung der Obstbäume durch die Römer zeigt neben der ökologischen auch deren kulturelle Bedeutung. Um mehr über die eventuell vorhandenen seltenen Sorten auf den alten, bizarren Obstbäumen zu erfahren, würden wir uns freuen, wenn Sie an der untenstehende Umfrage mittels des QR Codes teilnehmen würden. Es geht um alle Obstbäume, aber vor allem um die, die älter sind als 60 Jahre. Auch wenn es romanische Bezeichnungen dafür gibt, wäre es sehr spannend, mehr darüber zu erfahren.
Ein Beispiel dazu ist die wilde Pflaume, auf lateinisch Prunus domestica ssp. insititia. Auf Romanisch wird sie meistens «paloga» genannt. Ob damit immer das gleiche Obstgehölz gemeint ist, ist nicht sicher. «Paloga» wird auch für Kulturpflaumen verwendet. Die wilde Pflaume ist vermutlich den meisten Unterengadiner*innen bekannt. Sie wächst in Gärten, kommt aber auch regelmässig in Hecken vor. Seit wann sie bei uns wächst, ist nicht sicher. Vielleicht wurde sie bereits zu Urzeiten hier eingeführt und spielte in der Zeit der Selbstversorgung als Zuckerlieferant, Trockenfrucht oder auch Öl eine wichtige Rolle? Sollte jemand mehr über sie wissen, freuen wir uns sehr über entsprechende Hinweise über die «paloga sulvadia» oder die Kriecherl, wie sie in Nordtirol genannt wird.