Es ist nicht nur die Natur, welche unsere Landschaft gestaltet, sondern es sind auch wir Menschen, die seit Tausenden von Jahren die Landschaft prägen. In vielen Regionen der Schweiz – so auch im Val Müstair – entstand bis ins 19. Jahrhundert hinein eine reich strukturierte Kulturlandschaft. Der gesellschaftliche und technologische Wandel und die touristische Entwicklung veränderten diese markant. Viele Elemente ehemaliger Bewirtschaftungs- und Nutzungsformen sind in der heutigen Kulturlandschaft jedoch noch sichtbar. Um diese zu erhalten, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte notwendig.
Am Anfang steht die Detektivarbeit
Fotografien sind unmittelbare visuelle Zeugnisse unserer Umgebung. Sie eignen sich deshalb besonders gut, um Veränderungen in der Landschaft beispielhaft aufzuzeigen. Der Schweizerische Nationalpark (SNP) befasst sich seit rund 15 Jahren damit, den Landschaftswandel mit Foto-Gegenüberstellungen von damals und heute sichtbar zu machen. Zusammen mit der Biosfera Val Müstair wurde 2018 ein Projekt gestartet, um auch die Veränderungen im Val Müstair festzuhalten. Im Gegensatz zum Nationalpark, wo seit mehr als hundert Jahren vorwiegend natürliche Prozesse ablaufen, ist es aber vor allem der Mensch, welcher die Kulturlandschaft im Val Müstair prägt.
Im Rahmen des Projekts wurde in diversen Quellen nach historischen Fotografien und Postkarten gesucht. Danach musste deren Aufnahmestandort eruiert werden. Nur so war es möglich, Jahre oder Jahrzehnte später vom exakt gleichen Ort aus erneut eine Aufnahme machen zu können, sofern dort inzwischen kein Gebäude gebaut wurde oder Bäume die Sicht verdecken. Durch das genaue Aufeinanderpassen der Bilder können diese 1:1 miteinander verglichen werden. Verrückt, wie sich die Landschaft gewandelt hat. Erstaunlich, wie viel auch beim Alten geblieben ist.
Müstair mit Kloster St. Johann
Das folgende Bilder-Paar von Müstair zeigt links ein Foto, welches vor 1969 aufgenommen wurde (Fotograf unbekannt), das Foto rechts stammt von 2018 (SNP).
Rechts im Bild ist das Kloster St. Johann zu sehen, links der Nordteil des Dorfes mit der Pfarrkirche, welche über die anderen Gebäude herausragt. Am Dorfrand von Müstair sind in den rund 50 Jahren zwischen den Aufnahmen zwar einzelne Gebäude entstanden. Doch blieb der historische Dorfteil, geprägt durch die Klosteranlage mit ihrer 1200-jährigen Geschichte, weitgehend unverändert.
Die alten Holzzäune im Vordergrund, ein wichtiges Element des Landschaftsbildes, sind verschwunden. Auffällig ist, dass die ehemaligen Weiden am Berghang hinter der Siedlung heute deutlich dichter bewaldet sind.
Das Val Müstair ist eine einzigartige Kulturlandschaft mit vielen natürlichen, kulturellen und historischen Zeugnissen, Eigenheiten und Bedeutungen. Die Talflanken, wie diejenigen oberhalb der Siedlung von Müstair, sind – obwohl dichter bewaldet als noch in den 1960er-Jahren – besonders strukturreich und bestehen aus einem Mosaik von Waldweiden und offenem Weideland. Hier finden sich 83 von 212 in der Schweiz vorkommenden Tagfalterarten, unter anderem auch der sehr seltene Felsenfalter. Solcher Artenreichtum schwindet, wenn die Flächen nicht mehr genügend beweidet werden und als Folge davon weiter verbuschen.
Zwischen Sta. Maria und Müstair
Der Wandel ist im Talgrund am offensichtlichsten. Viele traditionelle Strukturen sind hier aus der Landschaft verschwunden. So zum Beispiel die Flickenteppiche aus kleinen Äckern und Feldern, wie im folgenden Bilder-Paar zwischen Sta. Maria (am linken Bildrand) und Müstair (am rechten Bildrand) erkennbar. Das Bild links wurde ca.1934 aufgenommen (swisstopo), das Bild rechts stammt von 2018 (SNP).
Teilweise existierten bis in die 1970er-Jahre Feldermosaike. Sie sind jedoch grossen Landwirtschaftsparzellen gewichen, welche durch Güterzusammenlegungen seit 1968 entstanden. Damit wurde der Einsatz grösserer Landwirtschaftsmaschinen möglich, was den Arbeitsaufwand erheblich reduzierte. Für viele Tierarten aber ist eine klein strukturierte Landschaft als Jagdgebiet und Unterschlupf überlebenswichtig.
Landschaftsverändernd ist auch der Anstieg der Siedlungs- und Infrastrukturfläche im ganzen Tal. Dies ist nicht etwa einer steigenden Einwohnerzahl zuzuschreiben, welche in den letzten 100 Jahren eher leicht abgenommen hat. Vielmehr entwickelte sich das Val Müstair seit Anfang des 20. Jahrhunderts touristisch mehr und mehr. Diese Entwicklung angestossen haben der Ausbau der Ofenpassstrasse (1872) und der Bau der Umbrailpassstrasse (1898 bis 1900). Es entstanden neue Hotels und Ferienwohnungen, aber auch den modernen Ansprüchen genügende Wohnungen für Einheimische.
Palü dals Lais
Das folgende Bilder-Paar zeigt das positive Beispiel einer landschaftlichen Veränderung: die Revitalisierung des Rombachs. Das linke Foto stammt aus 2004 (Pio Pitsch), das rechte Foto aus 2021 (SNP). Vor der Kanalisierung des Rombachs in den 1940er-Jahren – Ziel war die Gewinnung von Ackerflächen – gab es hier ein Sumpfgebiet. Seit mehr als einem Jahrzehnt schlängelt sich der Rombach nun auf einer Breite von 30 Metern erneut durch die Ebene zwischen Tschierv und Fuldera.
Es stellt sich die Frage, welche Landschaft wir in Zukunft wollen. Deren Schutz und Erhaltung sollte in Balance mit der Nutzung und Weiterentwicklung stehen. Ein Blick zurück gibt Hinweise darauf, wie unsere Kulturlandschaft und deren ökologische und ästhetische Werte entstanden sind und wie wir diese in Zukunft aktiv gestalten können. Denn eine attraktive Kulturlandschaft ist Heimat für den Menschen, Lebensraum für Tier- und Pflanzenarten und Wirtschaftsgrundlage der Berglandwirtschaft und des Tourismus gleichermassen.
Weitere spannende Bildpaare finden sich unter val-muestair.ch/de/zeitreise