Sent verfügt über ein gutes Dorf- und Gesellschaftsleben

Jürg Wirth Die Sturnels und die Società ütil Public kümmern sich um das Dorfleben und die Gemeinschaft in Sent. Nun organisieren sie gemeinsam wieder den Bal da büman a la veglia. Im Interview geben sie Auskunft über Traditionen und die Qualität des Dorflebens.

Welcher ist ihr Lieblingsvogel?

Guido Vogt: Als Präsident der Sturnels habe ich natürlich zum Star eine besondere Beziehung. Aber mein Lieblingsvogel ist tatsächlich der Turmfalke. Seit wir die Wohnung in Sent haben, beobachte ich diese Vögel, wie sie über dem Tal kreisen und wie sie ihre Jungen aufziehen im Glockenturm der Kirche. Einer dieser Falken hat die Dachbalken an unserem Haus zu seinem Lieblingsfressplatz erkoren. 

Jan Sedlacek: Der Turmfalke. Er kann in der Luft stillstehen und beobachten, bevor er etwas unternimmt.

 

Sie engagieren sich bei den Sturnels respektive der Società ütil public, weshalb?

GV: Mein Engagement entstand eher zufällig, als der vormalige Präsident der Sturnels, Andreas Wetter, vor ca. zwei Jahren zurücktrat und keine Nachfolge geregelt war. Da dann spontan ein paar Leute ihre Bereitschaft anmeldeten, im Vorstand mitzuarbeiten, habe ich das Präsidium übernommen.

Seither erlebe ich, dass unsere Veranstaltungen auf reges Interesse stossen, und das gibt mir eine grosse Befriedigung und Motivation. Es ist mir ein Anliegen, die Vernetzung der Sturnels untereinander und mit der Region zu fördern und gleichzeitig spezifische Themen von Sent und Umgebung zu vermitteln.

JS: Ich möchte mich an meinem Wohnort wohlfühlen. Das gelingt besser, wenn sich auch die Mitmenschen wohlfühlen.

 

Wieso braucht es diese Gesellschaften und was machen die konkret?

GV: Für die Sturnels sehe ich zwei Hauptzwecke. Erstens steht die Vernetzung untereinander und mit der Region im Fokus. Man trifft sich ja nicht automatisch, wenn man am Wochenende oder in den Ferien in Sent ist. Und so sind diese Veranstaltungen eine gute Gelegenheit, andere Zweitheimische, die nicht gerade Nachbarn sind, kennenzulernen. Zweitens möchten wir die Besonderheiten der Landschaft und der Kultur des Unterengadins vermitteln. Wir erhoffen uns, dass wir damit auch das Verständnis für die Region und die Verbundenheit stärken können. Entsprechend wählen wir unsere Themen. 

So haben wir letzten Herbst eine Begehung der revitalisierten Aue Panas-ch mit Angelika Abderhalden von der Fundaziun Pro Terra Engiadina organisiert. Wir haben von den ökologischen Herausforderungen erfahren, die eine solche Revitalisierung mit sich bringt und was man sich für die Natur erhofft. Der Feldornithologe Arno Sulser konnte auch schon Erfolge für gewisse Vogelarten vermelden, die explizit solche Lebensräume für ihre Brut benötigen. 

Diesen Sommer haben wir die Engadiner Volksmusik zum Thema gemacht und eine Lesung zum Buch von Jachen Erni «Las melodias dals Randulins» mit dem Autor selbst und Chasper Pult als Moderator durchgeführt. Es war eindrücklich zu erfahren, dass Sent lange der Mittelpunkt des musikalischen Lebens im Unterengadin war. Die Chapella Erni hat uns dann gleich auch noch die musikalischen Leckerbissen serviert.

Das sind zwei beispielhafte Veranstaltungen zu den Themen Natur und Kultur. Auf diesem Weg möchten wir weitergehen.

JS: Die SÜP ist der älteste Verein in Sent. Er wurde 1875/1876 gegründet (auf Initiative der Randulins), um das generelle Wohl der Gemeinde zu fördern, sei dies im kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bereich. 

Aus der Homepage habe ich hier einige vergangene Aktivitäten, die in den letzten knapp 150 Jahren durchgeführt wurden, aufgelistet: Theateraufführungen, Vorträge, Vorlesungen, Diskussionen, Konzerte. Viele Beiträge zum Wohle der Gemeindeschule, z. B. Finanzierung von Schulküche und Handarbeit, Sportgeräten, Erstellung eines Eisfeldes für die Schulkinder, Beiträge an die Schulreisekasse. Gründung der Gemeindekrankenkasse, öffentliche Beleuchtung von Strassen und Plätzen, Pflästerung der Hauptstrasse durch das Dorf, Heizungsinstallation in der Kirche, Anlegung von Wanderwegen, tatkräftige Hilfe beim Schulhausneubau in Saranschasch, Mithilfe bei der Anlegung des Vita-Parcours, Instandstellung der Kalkbrennerei in Sur En, Übernahme des Patronats für die Dorfbibliothek, Kauf der von den Bauern nicht mehr benötigten Alphütte «Prümaran da Prà San Flurin», die Società d'Ütil public möchte den ursprünglichen Zustand der alten Alphütte mit den Einrichtungen zur Käseherstellung für zukünftige Generationen bewahren. 

Heute ist die SÜP in Sektionen unterteilt: Bibliothek, Alleen, Konzerte, Tea Pra San Flurin, Sturnels

 

Sent hat relativ viele Zweitwohnende, darunter durchaus auch Prominenz, machen die auch mit bei den Sturnels?

GV: Die ganz grosse Prominenz konnten wir bis jetzt noch nicht gewinnen. Aber wir sind zuversichtlich, dass unsere interessanten Themen irgendwann Wirkung zeigen werden.

 

Wie ist die Verankerung von Sturnels und SüP im Dorf?

GV: Die Sturnels sehen sich als festen Bestandteil von Sent. Es ist für uns selbstverständlich, im Dorf einzukaufen, lokale Handwerker für Renovationen zu beauftragen und an öffentlichen Anlässen teilzunehmen. So sind beispielsweise die Konzerte in der Kirche immer gern von Zweitheimischen besucht.

JS: Sent hat eine lange Geschichte mit den Randulins. Das heisst Sentner, die in der Diaspora leben, aber dennoch sehr verbunden mit dem Dorf sind. Vor einigen Jahren kam deshalb die Idee, dass man die Auswärtigen, die mit Sent verbunden sind, in die SÜP miteinbezieht.

 

Wie funktioniert das Dorf- und Gesellschaftsleben generell in Sent, wie aktiv ist dieses noch?

GV: Sent verfügt über ein gut funktionierendes Dorf- und Gesellschaftsleben, das macht es für uns attraktiv. Wenn wir dieses mit unseren Aktivitäten ergänzen und unterstützen können, so ist dies für uns besonders wertvoll.

JS: Das Gesellschaftsleben in Sent ist sehr gut. Bei Anlässen ist ein grosser Teil der Bevölkerung anwesend und unterstützt sich gegenseitig. Sent hat auch eine lebhafte Vereinskultur, auch bei Ad-hoc-Veranstaltungen hilft die Bevölkerung tatkräftig mit.

 

Werden solche Aktionen von den Einheimischen begrüsst, oder wer macht da so mit?

GV: Zu unseren Veranstaltungen laden wir immer auch die Einheimischen ein und freuen uns darüber, dass jeweils auch Einheimische unter den Teilnehmenden sind. Zudem führten wir dieses Jahr zum zweiten Mal das Alleenrechen durch. Im Frühling muss das Laub der Alleenbäume, die so typisch sind für Sent, von den Wiesen gerecht werden, damit das Gras darunter wachsen kann. Das ist eine schöne Aktion von Zweitheimischen zusammen mit den ansässigen Bauern. 

JS: Die letzten Bals da Büman a la veglia waren sehr gut besucht.

 

Nun gibt’s ein Revival des Bal da büman a la veglia mit Volksmusik, was erwarten Sie von diesem Ball und sind weitere Aktionen in dieser Art geplant?

GV: Schon als wir die Veranstaltung zur Engadiner Volksmusik geplant hatten, kam die Idee auf, einen Ball zu organisieren. Die Bälle sind ja eine alte Tradition in Sent. Als wir dann an einer gemeinsamen Sitzung mit dem Vorstand der SÜP über Veranstaltungen diskutierten, die wir zusammen organisieren könnten, kam die Idee auf, diesen Bal da Büman a la veglia wieder durchzuführen. Wir sind gespannt, ob diese Tradition erneut auf Interesse stösst. Falls ja, könnten wir uns vorstellen, diesen wieder jährlich aufleben zu lassen. Und das würde uns sehr freuen!

JS: Vor einigen Jahren hat die Grotta da Cultura Sent den Bal da Büman a la veglia wieder lanciert. Schon damals gab es Diskussionen, ob man den Ball abwechselnd mit anderen Vereinen organisieren soll. Der organisatorische Aufwand ist doch gross. Als die Sturnels mit der Idee kamen, man könnte zusammen einen Anlass organisieren, heisst etwas für die Einheimischen und Zweitheimischen anzubieten, fanden wir das eine gute Idee. So kann man den Zweitheimischen die Traditionen näherbringen. Mit der Società da giuventüna Sent haben wir eine gute Truppe für die Festwirtschaft am Abend gefunden.

 

Sollte man da nicht vielleicht etwas moderner werden oder wer ist das Zielpublikum?

GV: Die Mitglieder der Sturnels sind ja die Zweitheimischen und damit altersmässig sehr breit gestreut, von Jung bis Alt. Es gibt Personen, die schon als Kinder regelmässig in Sent waren und nun wiederum mit ihren Kindern hier sind. Sent wird geschätzt für seine Authentizität, den intakten Dorfkern und das reiche Kulturangebot. Das sind Werte, die vielleicht nicht «modern» wirken, aber für viele einen Ausgleich zu den Herausforderungen des Berufsalltags bieten. Wir werden also kaum ein Münchner Oktoberfest in Sent veranstalten.

JS: In Sent hat die giuventüna schon einige Bals da Büman organisiert, die eher an Jugendliche gerichtet war. Dafür ist der Bal da Büman a la veglia eher für Tanzfreudige gedacht. Ich denke, auch hier ist es gut, wenn es eine Kombination von beidem gibt. Da die giuventüna die Festwirtschaft macht, hoffen wir das Jung und Alt den Weg in die Schule Sent finden.

 

Lassen sich verloren gegangene Traditionen wiederbeleben oder könnte man auch neue Traditionen aufbauen?

GV: Ich glaube, Traditionen lassen sich nicht planen. Mit dem Bal da Büman a la veglia verbinden viele hier gute Erinnerungen und das war Grund genug, diesen Gemeinschaftsanlass wieder durchzuführen. Im Endeffekt aber zählt, ob sich die Leute – Junge und Ältere – angesprochen fühlen und einen tollen Abend miteinander verbringen. Wenn das der Fall ist, sind wir alle zufrieden und werden diesen Anlass im folgenden Jahr wieder durchführen. Dabei kann es durchaus sein, dass sich der Ball weiterentwickeln wird und mit der Zeit neue Formen annimmt.

JS: Ich denke, das eine schliesst das andere nicht aus. Es ist schön, sich von Zeit zu Zeit wieder auf die alten Wurzeln zu besinnen. Dennoch sollte man die Freiheit haben und sie sich nehmen, diese Traditionen an die heutige Zeit anzupassen und auch neue Traditionen parallel entstehen zu lassen.

 

Wie ist es ums Dorfleben in Sent generell bestellt, welche Vereine und Aktivitäten gibt es noch?

JS: Sent hat sehr viele Vereine, sei es im musikalischen, kulturellen, gesundheitlichen und sportlichen Bereich. Dazu hat es auch einige Vereine speziell für Kinder und Jugendliche sowie für ältere Einwohner. Die Liste der Vereine ist sehr lang und zu finden unter: sent-online.ch/societats/index.html

 

 

Was denken Sie, macht ein gutes Dorfleben aus?

GV: Ein gutes Dorfleben ist für mich dann gegeben, wenn sich die Leute gegenseitig wahrnehmen, sich füreinander interessieren und nicht gleichgültig aneinander vorbeigehen, seien sie Einheimische oder Zweitheimische. Ich schätze an Sent und am Unterengadin generell, dass man sich hier auch als Unterländer willkommen fühlt, und zwar nicht nur, weil der Tourismus wirtschaftlich von Bedeutung ist, sondern weil wir andere Ideen und Werte mitbringen und so in einen interessanten Austausch kommen. Und das ist eine Qualität, die so viel mehr wert ist, als die Frage, ob auch der letzte Schrei an touristischen Angeboten vorhanden ist.

JS: Die Gemeinschaft und der Zusammenhalt. Das Dorf lebt, man sieht sich zum Beispiel beim Einkaufen bei Schul- und Vereinsanlässen. Ein spontaner Schwatz auf der Strasse ist jederzeit möglich. 

 

 

Guido Vogt (GV) ist Präsident der Sturnels da Sent. Er ist seit zwei Jahren pensioniert, hat aber sein Ingenieurbüro behalten und arbeitet noch rund zwei Tage die Woche als Software-Ingenieur. Daneben unterrichtet er Deutsch für Fremdsprachige, die erst seit kurzer Zeit in der Schweiz sind. In seiner Freizeit ist er gerne mit seiner Frau in der Natur unterwegs. Seit über 30 Jahren verbringt er die Winterferien im Unterengadin, seit 2016 haben er und seine Frau eine Wohnung in Sent.

 

Jan Sedlacek (JS) ist Präsident der Società ütil Public Sent. Er ist in Sent aufgewachsen, hat dann aber nach der Matura das Tal verlassen und 20 Jahre im Unterland gelebt und gearbeitet. Vor neun Jahren sind er und seine Frau gemeinsam mit den drei Kindern nach Sent zurückgezogen und leben seither wieder im Dorf.

Guido Vogt ist Präsident der Sturnels.
Guido Vogt ist Präsident der Sturnels.
Jan Sedlacek präsidiert die Società ütil Public da Sent.
Jan Sedlacek präsidiert die Società ütil Public da Sent.

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