Ortsverbundenheit entwickelt man zu einem bestimmten Ort, an dem man viele Jahre gelebt hat. Sei es aus persönlichen Gründen, weil man dort aufgewachsen ist, oder weil es sich aus der beruflichen oder wirtschaftlichen Situation so ergeben hat. Familiäre Bande, soziale Kontakte, der Arbeitsplatz oder gar Hausbesitz lassen uns mit einem Ort verwachsen. Immer öfter entscheiden sich jedoch Menschen nach ihrer Pensionierung, den jahrelangen Wohnort hinter sich zu lassen, um ihren Ruhestand an einem neuen, meist ruhigeren Ort zu geniessen. Dieses Phänomen lässt sich auch in den Talschaften der Ferienregion Unterengadin Samnaun Val Müstair feststellen. Für diese neuen Einheimischen steht nicht mehr die Ortsgebundenheit im Mittelpunkt, sondern der Wunsch nach einem neuen Lebensabschnitt fernab der Hektik. Der Tapetenwechsel bietet ihnen die Chance, ihre Zeit frei zu gestalten und die Ruhe zu geniessen, die sie sich lange erhofft haben. Mit den heutigen Möglichkeiten, digital vernetzt zu bleiben, wird das Verlassen des vertrauten Umfelds zudem leichter. Sich heimisch zu fühlen, hängt nicht nur davon ab, wie lange man an einem Ort gelebt hat. Vielmehr ist es meist die Umgebung, die Natur- und Architekturlandschaft, die Möglichkeit zur bevorzugten Freizeitgestaltung, die im Alter eine wichtige Rolle spielen. Die Hintergründe und Motive eines jeden Einzelnen sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst, und es ist interessant, ihre Geschichten zu erfahren.
Neue Einheimische und ihre Beweggründe
Bei Robert und Doris Zehnder aus Sta. Maria war es ein Haus, welches sie zu diesem grossen Schritt veranlasste. Doris Zehnder sinniert: «War es Zufall, Glück oder gar Fügung, dass wir dieses wunderbare Haus hier in Sta. Maria gefunden haben?» Alles begann vor mehr als vierzig Jahren, als sie und ihr Mann Robert jung verheiratet mit zwei kleinen Mädchen in einer Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Nähe des Zürichsees wohnten. Durch verwandtschaftliche Bande reisten sie jedes Jahr ins Südtirol in die Ferien, und nachdem ihre jüngere Tochter dort gar eine Familie gründete, wurden diese Reisen immer häufiger. Die Fahrten durch den Nationalpark und das liebliche Val Müstair begeisterten das Paar von Mal zu Mal mehr, sodass sie die Reisen öfter mit einem Aufenthalt im Tal verbanden. Der Zufall wollte es, dass sie bei einem dieser Besuche auf ein zum Verkauf stehendes älteres Haus in Sta. Maria aufmerksam wurden. «Wir besichtigten es, verliebten uns augenblicklich in dieses Bijou eines Hauses – und die Sache war beschlossen», erinnern sich Zehnders. Dieses Haus aus alten Mauern mit Räumen aus heimeligem, gut duftendem Arvenholz und mit grossem Garten war ihr Traumhaus. Seit 2013 hat das Ehepaar nun seinen Wohnsitz in Sta. Maria, und sie haben diesen Schritt nie bereut. Ihr Heimatgefühl ist eng mit diesem Haus verbunden. Die Einheimischen machten ihnen das Einleben leicht, selbst die für sie fremde romanische Sprache war kein Hindernis. Die engen Kontakte mit den Familienangehörigen am Zürichsee und den Freunden im Unterland sind trotz der Distanz geblieben. Robert ist begeisterter Langläufer und schätzt die Nähe zu den Loipen im Tal. Doris liebt ihren Garten und freut sich an den wechselnden Jahreszeiten, vom farbenprächtigen Bergfrühling bis zum tief verschneiten Winter. «Heimat ist da, wo du dich wohlfühlst», sagen beide unisono.
Baumgartners, ursprünglich aus Zürich, haben die Welt gesehen. Buchstäblich. Walter Baumgartner und seine Frau Anneliese sind Weltenbummler seit ihrer Jugend. Er als Devisenhändler und sie als Anwaltssekretärin waren beruflich nicht an die Schweiz gebunden. Sie lebten in New York, lange Jahre in Neuseeland, in Hongkong, in Tokio, und sie segelten mit ihrer Segeljacht fast um die ganze Welt. Wenn sie erzählen, tauchen dabei exotische Orte auf wie Tacloban, die Palau Inseln, Papua-Neuguinea, Salomonen, Vanuatu, Neukaledonien. Nach intensiven Jahren im Geschäftsleben nahmen sie den ersten grossen Wechsel in ihrer Lebensstruktur vor: Sie zogen auf die Südinsel von Neuseeland und betrieben eine Landwirtschaft mit Obst- und Olivenplantagen und einigem Federvieh. Es war jedoch stets ihr Lebensplan, im Alter in die Schweiz zurückzukehren. Im Val Müstair verbrachten sie bereits ihre Hochzeitsnacht vor sechzig Jahren, lernten es aber bei ihren regelmässigen Ferien in der Schweiz durch eine Freundin noch besser kennen und lieben. Baumgartners hatten viel gesehen und erlebt, jetzt wollten sie sich an einem beschaulichen Ort niederlassen, ein neues, ruhigeres Leben beginnen. Es lag nahe, dass ihre Wahl auf das Val Müstair mit seiner intakten Naturlandschaft fiel, und das Stück Land auf dem «Döss» in Tschierv entsprach genau ihren Träumen. Dort konnten sie sich ein Haus nach ihren Vorstellungen errichten und leben nun schon seit elf Jahren im Tal. Walter und Anneliese Baumgartner sind sich einig: «Wir sind hier daheim und es gefällt uns wie am ersten Tag».
Ein kleines Ferienhaus in Samnaun Compatsch hat den Ausschlag gegeben, dass René Diethelm nach seiner soeben erst erfolgten Pensionierung einen Wohnortswechsel vollzogen hat. Ende der Achtzigerjahre war er zum ersten Mal in Samnaun zum Skifahren. Nach der Gründung seiner Familie hat er bis 2002 die Skiferien in Bivio verbracht, bevor es ihn und die Familie wieder nach Samnaun gezogen hatte. Das weitläufige Gebiet der Silvretta Skiarena hatte es den begeisterten Skifahrern sofort angetan, und nachdem sie 2015 in Compatsch das Ferienhaus kaufen konnten, war die Familie mehrmals jährlich und zu allen Jahreszeiten in Samnaun anzutreffen. Diethelms fühlen sich wohl im kleinen Seitental des Engadins und bei den Einheimischen willkommen. René Diethelm war bis zur Pensionierung Schulsekretär in Weinfelden. Den neuen Lebensabschnitt möchte er beschaulicher und mit seinen Lieblingsbeschäftigungen wie Skifahren und Wandern verbringen. Das «Chasina» ist jetzt sein neues Zuhause. Seine Frau steht noch im Berufsleben und bleibt am bisherigen Wohnort wohnen. Das Hin- und Herpendeln wird vorläufig Bestandteil ihres Alltags sein, was sie aber nicht als Belastung empfinden. Die Lebensqualität in den Bergen ist die Entschädigung dafür.
Zugezogen, nicht abgewandert
Die Gemeinden in den Talschaften freuen sich über die neuen Zuzüger. Die Abwanderung ist ein Thema, das alle Berggebiete beschäftigt und vor Probleme stellt. Es werden Anstrengungen unternommen, um die Attraktivität der Ferienregion als Wohnort zu steigern, um auch jungen Leuten, Familien mit Kindern eine Lebensgrundlage zu ermöglichen. Gute Arbeits- und Ausbildungsplätze, bezahlbarer Wohnraum, Kinderbetreuung und Freizeitangebote sind die Voraussetzungen dafür. Die ältere Generation, die neuen Einheimischen, sind darauf nicht mehr angewiesen. Die Schönheit der Naturlandschaft mit den vielen Betätigungsmöglichkeiten, die Ruhe und Beschaulichkeit in den Dörfern, aber auch die vielen kulturellen Angebote sind für sie die zentralen Aspekte der Lebensqualität, deshalb wählen sie diese Region zu ihrer neuen Heimat.